: Europas Bauern haben ihre Ruhe
VON NICOLA LIEBERT
Die EU schien – selbstlos – zu größten Zugeständnissen bereit zu sein. Bei den Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) Ende vergangenen Jahres in Hongkong erklärte der Staatenbund: Um durchschnittlich 47 Prozent wolle er seine Zölle auf landwirtschaftliche Produkte senken. Bei den Beihilfen war gar von 70 Prozent die Rede. In Genf, am Hauptsitz der WTO, wird derzeit weiter verhandelt. Bis Jahresende. Die Entwicklungsländer verlangen noch weitere Zugeständnisse. Aber sind die EU-Bauern auf dem Weltmarkt dann noch überlebensfähig? Und wen würde der Abbau europäischer Zölle und Subventionen am schlimmsten treffen?
Niemand weiß es genau – offenbar auch die meisten Bauern nicht. Ulrich Jasper von der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft (AbL) etwa glaubt – angesprochen auf die WTO-Beschlüsse – nicht, „dass irgendein praktizierender Bauer den Überblick hat, was ihm zusteht oder was auf ihn zukommt“.
Brüssel hat keine Zahlen
Es gibt nur bruchstückhafte Informationen, wie hoch die Zölle und Beihilfen eigentlich sind, die bei den einzelnen Empfängern ankommen, und wer besonders von den Subventionen profitiert. Selbst bei der EU-Kommission in Brüssel sind solche Zahlen nicht zu kriegen. Denn für die Auszahlung der Beihilfen seien „die einzelnen Mitgliedsstaaten und -regionen zuständig“, erklärt ein Sprecher. Und über die Zölle gebe es keine Zusammenstellung, weil sie sich ständig für die 2.000 bis 3.000 Produktkategorien ändern. So gibt es allein auf 40 verschiedene Rindfleischarten jeweils unterschiedliche Zölle.
Immerhin: Vor anderthalb Jahren schaffte das dänische Medieninstitut Dicar erstmals ein wenig Überblick – und heute wollen es 21 Entwicklungs-, Umwelt-, Bauern- und Kirchen-Organisationen, darunter die AbL, Oxfam, WWF und German Watch, ihm gleichtun. In Berlin starten sie eine Initiative für mehr Transparenz bei den EU-Agrarsubventionen. Das dürfte brisant werden, denn als Dicar damals im Internet veröffentlichte, wer in Dänemark welche EU-Beihilfen bekommt, brach prompt das Computersystem wegen Überlastung zusammen. 117 verschiedene Fördermöglichkeiten waren da aufgelistet, Umfang: 1,3 Milliarden Euro im Jahr 2002. Allein 174 Millionen gingen an den Molkereiriesen Arla Foods, 16 Millionen an die Schlachterei Danish Crown, bekannt für Frühstücks-Bacon. Aber auch die königliche Familie und diverse Politiker tauchten auf der Liste auf, etwa die jetzige EU-Landwirtschaftskommissarin Mariann Fischer Boel. Großbritannien hat solche Daten inzwischen auch freigegeben. Deutschland nicht.
Die Bundesregierung ist zwar seit Jahresbeginn durch das Informationsfreiheitsgesetz eigentlich verpflichtet, auf Anfrage auch über die EU-Zuwendungen aufzuklären. Doch eine Sprecherin des Landwirtschaftsministeriums schränkt sogleich ein: „Wir prüfen noch, inwiefern wir überhaupt Daten dazu haben.“ Die Mittelvergabe ist dezentral; die Länder, das Bundesfinanz- und das Landwirtschaftsministerium sind daran beteiligt; die Datenerhebung erfolgt oft anonymisiert – und insgesamt hat niemand so recht den Überblick.
Auch bei den WTO-Verhandlungen über Zölle hantiert die EU nur mit Durchschnittswerten – offenbar durchaus mit politischer Absicht. Hinter den durchschnittlich 40 bis 70 Prozent Zöllen auf Fleisch, 87 Prozent auf Milch oder 53 Prozent auf Getreide verbergen sich nämlich Spitzenwerte von teilweise mehreren hundert Prozent. Das heißt, die EU verlangt bei der Einfuhr mancher Produkte Zölle, die ein Mehrfaches des eigentlichen Produktwerts betragen. Diese Zölle, mit denen europäisches Rindfleisch und Geflügel, Obst und Gemüse vor deutlich billigerer ausländischer Konkurrenz geschützt werden, möchte man gegenüber der WTO lieber nicht zur Disposition stellen. Solange man nur zusagt, die Durchschnittswerte zu senken, kann man den Zollabbau auf Produkte konzentrieren, die für die EU-Landwirtschaft eher unbedeutend sind. Gegenüber der WTO hat sich die EU-Kommission ohnehin stets Ausnahmen für bestimmte Produkte ausbedungen.
Und so viel ist klar: Die Zahlen, mit denen die WTO operiert, entsprechen ganz sicher nicht der Realität. Denn bei den Verhandlungen um den Subventionsabbau geht es immer nur um besonders handelsverzerrende Beihilfen, die stark zur Überschussproduktion beitragen. Niemals hat die EU angeboten, alle Subventionen zu senken. Stattdessen lenkt sie ihre Beihilfen nur um. Das funktioniert so: Früher bekam ein Bauer desto höhere Zahlungen, je mehr Getreide oder Fleisch er produzierte. Das gilt als handelsverzerrend. Künftig erhält er stattdessen mehr direkte Einkommensbeihilfen unabhängig von der Produktionsmenge. Und die werden auch weiterhin in beliebiger Höhe erlaubt sein.
Zudem verhandelt die WTO gar nicht über die realen Zölle und Subventionen, sondern über rein fiktive, völlig übertriebene Werte. Alle Mitgliedsstaaten melden bei der WTO Beihilfen und Zollsätze in einer bestimmten Höhe an. Doch diese „notifizierten“ Beträge liegen meist weit über dem tatsächlichen Niveau. Die Staaten übertreiben mit Absicht: So sichern sie sich eine gewisse Flexibilität und Verhandlungsmasse. Denn dadurch könnten sie etwa die Beihilfen für ihre Landwirte bei Bedarf sogar noch erhöhen – und lägen trotzdem noch innerhalb des Rahmens, den sie bei der WTO angemeldet haben. Oder aber sie können anbieten, einige notifizierte Zölle zu senken – und müssten trotzdem ihre realen Zollsätze nicht anrühren. Selbst wenn die EU, wie versprochen, die notifizierten, handelverzerrenden Subventionen um 70 Prozent abgebaut würden, müsste kein Landwirt Europas auf einen Euro verzichten. „Auf die Bauern käme keine zusätzliche Belastung zu“, meint Rudolf Buntzel, Ernährungsexperte beim Evangelischen Entwicklungsdienst.
Die Folge dieser Politik: Trotz aller EU-Versprechen findet keinerlei Subventionsabbau statt, wie die Daten der Industrieländerorganisation OECD belegen. Seit zwei Jahrzehnten zahlen die Industrieländer inflationsbereinigt unverändert rund 250 Milliarden US-Dollar jährlich an ihre Landwirte und die verarbeitenden Betriebe. 83,5 Milliarden Euro hat allein die EU für das Jahr 2001/2002 an die WTO gemeldet. Das meiste Geld fließt hier für Rindfleisch und Milch, gefolgt von Weizen und anderem Getreide sowie Schweinefleisch.
Zu Lasten von Afrika
Doch wer würde verlieren, wenn die EU-Zölle und -Subventionen nicht nur zum Schein, sondern ganz ernsthaft abgebaut würden? Die Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft hat es simuliert: Besonders Rindfleisch, Obst und Gemüse und einige Getreidesorten wie Mais oder Gerste hätten es sehr schwer auf dem Weltmarkt. Die EU-Handelsbilanz würde sich bei diesen Produkten negativ entwickeln.
Die WTO-Konferenz in Hongkong hatte nur ein konkretes Ergebnis, das die EU-Bauern langfristig schmerzen könnte: Die Exportsubventionen sollen bis 2013 abgeschafft werden. 2004 hat die EU 3,4 Milliarden Euro für diese Subventionen gezahlt – dies entspricht nur einem Zehntel des Betrags, der für die internen Agrarbeihilfen ausgegeben wird. Auf Deutschland entfiel dabei eine halbe Milliarde. Von diesem Geld profitieren Zucker-, Getreide- und Fleischexporteure und vor allem die Milchwirtschaft, die 2004 allein 1,5 Millionen Euro erhielt. Nach informellen Informationen, die Marita Wiggerthale von Oxfam aus Brüssel erhielt, gehören etwa Nordmilch, Nestlé Deutschland, Südzucker und Südfleisch zu den großen Empfängern dieser Subventionen.
So wird beispielsweise der europäische Milchsee abgebaut, indem die Milch zu Butter, Butterschmalz und Trockenmilch verarbeitet und exportiert wird. Nicht etwa der Milchbauer, sondern die exportierende Firma bekommt Geld, um die Milchprodukte anschließend in Jamaika oder Westafrika zu verkaufen. In einer Studie rechnet Misereor vor, wie das funktioniert: Der 25-Kilo-Sack Milchpulver kostet 78 Euro, bis er beispielsweise in Burkina Faso angekommen ist. Zu diesem Preis wäre er dort aber unverkäuflich. Exportsubventionen verbilligen den Preis eines Liters Milch aus europäischem Milchpulver auf 30 Cent. Heimische Milch dagegen kostet mehr als das Doppelte. Klar, dass die afrikanischen Viehzüchter vom Markt verdrängt werden und oft aufgeben müssen. Wenn Europas Milchproduzenten künftig Einschnitte bei den Exportsubventionen erdulden müssen, könnten sie also leiden. In Entwicklungsländern aber würden zahlreiche Existenzen gerettet.