: Die Melkkuh mit verbundenen Augen
Der Bund wird mit dem vorliegenden Föderalismusentwurf bildungspolitisch zu einer sprach- und machtlosen Figur herabgewürdigt. Die Argumente der Länder für diese Entmachtung ähneln verdächtig denen, die Landesherren im 19. Jahrhundert gegen den Modernisierungsschritt „Zollverein“ bemühten
VON KLAUS LANDFRIED
Vielleicht muss man mit einer Anekdote beginnen, um ohne viele Worte zu verstehen, wie Föderalismus sein kann. Es war bei einer britisch-deutschen Regierungskonferenz über die Zusammenarbeit in Schul- und Hochschulfragen in Manchester vor zehn Jahren. Der britische Minister hatte einen launigen Toast zum Besten gegeben, auf Deutsch. Norbert Lammert, heute Bundestagspräsident und damals Bildungsstaatssekretär beim Bund, hatte in ebenso gutem Englisch den erfreulichen Dialog zwischen beiden Ländern gewürdigt. Sodann erhob sich, wie es so üblich ist, wenn Deutsche im Ausland in Bildungssachen vorstellig werden, ein Vertreter der Kultusministerkonferenz (KMK). Er zog ein Bündel Papier aus seiner Brusttasche und redete lange. Was allen sichtlich unangenehm war. Denn er sprach erstens in Deutsch, war also einer – gottlob verkürzenden – Übersetzung bedürftig. Und zweitens wollte das Auditorium in freudiger Erwartung frischen Roastbeefs nicht darüber belehrt werden, dass nur Föderalismus vor Faschismus schütze.
Mancher mag meinen, es handle sich nur um eine Anekdote. Im internationalen Umgang jedenfalls kann davon keine Rede sein. Das immer noch mit Abstand größte und stärkste Mitgliedsland der EU muss ja mit einem sprachlosen Bundesbildungsminister auftreten, zu dessen Begleitung die KMK stets eine Gouvernante mitschickt. Im schönen Wechsel, denn der Präsident der Kultusminister rotiert ständig zwischen den 16 Ländern. Angesichts dieser ebenso clownesken wie trübsinnigen Selbstlähmung schwanken die politischen Repräsentanten in Brüssel und anderswo in Europa zwischen Amüsement und Fassungslosigkeit. „Frustrated by frustration and self-pity“ ist die kürzeste Kommentierung , die ich gehört habe. Aber hören deutsche Landesfürsten internationale Stimmen, verstehen sie sie überhaupt?
Betrachtet man die Föderalismus-Debatte von London, Paris, Helsinki oder Madrid aus, so erkennt man rasch, dass das jahrelange Gezerre zwischen Bund und Ländern im Hochschulbereich das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in Mitleidenschaft gezogen hat. Über kein Mitgliedsland der EU werden so viele abschätzige Bemerkungen, ja Witze gemacht wie über Deutschland.
Kaum jemand, so scheint mir, hatte beim Aushandeln des vorliegenden Föderalismusentwurfs die europäische Karte vor sich. Es wurde schlicht übersehen, dass die EU in steigendem Maße über Forschungs- und Bildungsprogramme Strukturen und sogar Inhalte von Forschung und Bildung beeinflusst. Hätten das die Gevattern Stoiber und Müntefering der vorgeblichen Mutter aller Reformen gesehen, hätte das vorliegende Ergebnis nicht zustande kommen können.
Auch zu Hause wird die lautstarke, aber finanzschwache „Kulturhoheit“ der Länder stets mit schrillem Eigensinn beschworen. Mit unglaublicher Provinzialität übersieht der am Freitag einzubringende Gesetzentwurf alle gesamtdeutschen und europäischen Abstimmungsnotwendigkeiten, egal ob es um den Bologna-Prozess, also die Internationalisierung der Studienorganisation, um die Ganztagsschulen, die Forschungsförderung oder den Hochschulbau geht. Dieser föderale Eigensinn hat seine pathologischen Ursprünge nicht nur in parteipolitischer Polemik, sondern, was das Argumentationsarsenal angeht, auch in der deutschen Geschichte. Mir jedenfalls fällt eine strukturelle Ähnlichkeit der heutigen Argumente mit denen auf, die große und die kleine Landesherren im 19. Jahrhundert gegen den Modernisierungsschritt „Zollverein“ bemühten, also der Abschaffung allgemeiner Schranken.
Bei Bildung und Forschung im Speziellen haben die Bundes- und Landesminister Ende der 1960er-Jahre die Notwendigkeit erkannt, Länderschranken zu überwinden und sich enger abzustimmen. Sie haben Hochschulbau, Bildungsplanung und Forschungsförderung als gesamtstaatliche, aber gemeinschaftlich zu erledigende Aufgaben im Grundgesetz verankert. Damals ging es darum, die Innovationsstärke einer der größten Industrienationen zu wahren. Ausgerechnet heute, in Zeiten verschärften globalen Wettbewerbs, soll dies wieder zurückgedreht werden?
Hören wir, was aus den Dunstschwaden der Föderalismus-Stammtische dringt. Da äußert etwa Hessen, dass die Förderung des Spitzennachwuchses entscheidend sei für den Erfolg im Innovationswettbewerb. Bravo! Aber wer fördert denn selbst bei Zustimmung aller anderen Länder – neben ein paar privaten Sponsoren – die so wichtige Studienstiftung des Deutschen Volkes? Der Bund natürlich. Und wer fördert den Akademischen Austauschdienst und die Humboldt-Stiftung? Der Bund!
Die Beispiele lassen sich mühelos fortsetzen. Erst Druck von außen, sozusagen aus Pisa, und aus der öffentlichen Meinung veranlasste die Länder, im Schulwesen zu bundesweiten Leistungs- und Anforderungsstandards zu kommen. Schauen denn die Landesfürsten keine Bildungs-Umfrage-Ergebnisse an? Aus ihnen ist doch überdeutlich abzulesen, dass die Deutschen vergleichbare und Mobilität erlaubende Niveaus in Schule und Hochschule wollen. Diese sollen übrigens möglichst europaweit gelten – nun aber werden kleinstaatliche Grenzen neu errichtet.
Völlig ungelöst sind die länderübergreifenden Koordinationserfordernisse der Hochschulen in Deutschland. Ein so genannter Wettbewerbs-Föderalismus, wie er jetzt eingeführt werden soll, löst diese Probleme nicht. Schon deshalb nicht, weil es sich gar nicht um echten Wettbewerb handelt, in dem Ausgangslage und Wettbewerbsregeln annähernd vergleichbar wären. Nein, hier werden nur Wortspiele veranstaltet, um Besitzstände mit „Verfahrens-Schutzzöllen“ abzusichern. Den milliardenschweren Bedarf an Laborgerät und Großsanierung kann kein Land alleine stemmen. Der Bund wird zu einer augenverbundenen Melkkuh herabgewürdigt.
Die wirklichen Aufgaben bestünden woanders. Zum Beispiel in der Antwort auf die Frage, wo in Deutschland insgesamt, nicht innerhalb zufälliger Ländergrenzen, etwa Rumänistik, Judaistik, Architektur, Veterinärmedizin oder Pharmazie gebraucht werden. Diese heiklen wissenschaftlichen Bewertungsaufgaben darf man nicht einem Pseudowettbewerb überlassen. Umso mehr gilt dies für große Investitionsentscheidungen in Bildung und Forschung, wie sie beim Hochschulbau und bei der Forschungsförderung anstehen. Hier sind zwingend der Sachverstand des Wissenschaftsrates ebenso wie der Forschungsgemeinschaft oder der Rektorenkonferenz sowie eine länderübergreifende Koordination gefragt.
Nun gibt es dazu noch Landesregierungen, welche die letzte Koordinationsinstanz, die Kultusministerkonferenz, in eine existenzgefährdende Abmagerung treiben. Ohne eine starke KMK werden die deutschen Länder noch lächerlicher in ihrem internationalen Auftritt. Oder geht es gar nicht mehr um Abstimmung, sondern um staatenbündlerische Alleinstellungen?
Wie könnte ein aufgabenbezogenes „Zusammen-“ und das „Getrennt“-Handeln von Bund und Ländern bei Bildung und Forschung aussehen?
1. Bund und Länder sollten sich vor allen Konferenzen und Beratungen internationaler Gremien zwar abstimmen. Aber sie sollten nur einem – und zwar über mehrere Jahre dem gleichen Vertreter ihre Stimme geben. Das ist aus Gründen der Kontinuität wichtig, und mir scheint, dass eher der Bund geeignet ist, über Kontinuität und Einheitlichkeit eine wirksame Stimme erzeugen zu können.
2. Eine Änderung des Grundgesetzes bei den Gemeinschaftsaufgaben nach Artikel 91, insbesondere dem Hochschulbau, ist nicht nur überflüssig, sondern wäre auch schädlich für die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Im Gegenteil, die Koordination muss verbessert werden, indem man die Rolle des Wissenschaftsrates bei der Bewertung von wissenschaftspolitischen Strukturentscheidungen aller Art (unter anderem Investitionen, Prioritätenlisten für Großsanierungen, Neubau und Großgeräte) stärkt.
3. Ein Bundesgesetz zur Sicherung von Freizügigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Universitäten sollte das alte Hochschulrahmengesetz ersetzen. In ihm sollten nur als Rahmen qualitätsgesteuerte Verfahren für die Hochschulplanung, für Fälle eines bundesweiten Numerus clausus, Eckpunkte der Studienstruktur und der EU-weiten Anerkennung von Abschlüssen sowie Kriterien für die Gestaltung der Personalstruktur und des Beschäftigungsrechtes zu finden sein. Subsidiarität im Hochschulbereich würde bedeuten, dass in allen Ländern die Hochschulen das Maß an Eigenverantwortung im operativen Alltagsgeschäft erhalten, das beispielsweise in Österreich besteht.
4. Angesichts der Verflechtungen vieler Politiksektoren sind also anstelle einer stärkeren „Föderalisierung“, das heißt im Ergebnis „Provinzialisierung“ der öffentlichen Verantwortung leichter handhabbare Formen des Zusammenwirkens von Bund und Ländern zu entwickeln. Dafür gibt es gute Beispiele, etwa in der Schweiz. Die Weitsicht und Selbstbeschränkung, die aus dem Zusammenwirken von kantonalen Erziehungsdirektoren und Bundesregierung spricht, wünsche ich auch denen, die in Deutschland – wieder – zu Partnern werden müssen.
KLAUS LANDFRIED, 65, war Professor für Politikwissenschaft, Universitätspräsident und Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Er ist heute freier Berater und kritischer Bürger.