: „Da muss mehr Elitebewusstsein rein“
SERIE ZUR BUNDESTAGSWAHL Schulen müssten Jugendlichen gutes Benehmen beibringen, nur dann hätten sie Chancen auf einen Job, glaubt Martin Lindner, Bundestagskandidat der FDP. Seine Partei hat im Land zurzeit wenig zu melden. Doch Lindner wittert Morgenluft
■ 49, ist stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion und Landeschef der FDP in Berlin. Zwischen 2002 und 2009 war er Fraktionsvorsitzender der FDP im Abgeordnetenhaus.
INTERVIEW SEBASTIAN PUSCHNER
taz: Herr Lindner, alle wollen, dass der Staat neue Wohnungen baut. Sie auch?
Martin Lindner: Nein. Der Staat ist als Bauherr in der Regel teurer, das sieht man an Flughäfen, Philharmonien und Ähnlichem. Das hat verschiedene Ursachen: die zu niedrige Anfangskalkulation, die Billigstvergabe am Anfang und dann teure Neuausschreibungen und Nachträge am Ende der Bauphase etwa. Der Staat ist auch in der Hausverwaltung mäßig engagiert, bei Instandhaltung und Neuvermietungen. Da ist es eben etwas anderes, wenn es um privates Eigentum geht, wo sich der Besitzer natürlich sehr viel mehr bemühen muss.
Was soll sich dann in Sachen Wohnungsbau tun?
Es ist besser, man gibt Bürgern im Einzelfall einen Mietzuschuss für Wohnungen auf dem freien Markt.
Und das behebt dann den Mangel an bezahlbarem Wohnraum?
Ich habe neulich mit einer Frau diskutiert, die wohnt in Mitte und kann sich die Miete dort nach der Sanierung des Hauses nicht mehr leisten. Die Miete war von 6,50 auf 12 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Ich habe ihr gesagt, es gebe in der Stadt noch genug Wohnraum für etwa 6,50 Euro, und verwies auf meinen eigenen Bezirk: Steglitz-Zehlendorf.
Was hat die Frau gesagt?
Sie wies das empört von sich und sagte, sie wolle da nicht ausziehen. Als ginge es bei Steglitz-Zehlendorf um irgendeinen fernen Stadtrand ohne S-Bahn-Anschluss! Aber wenn man mit diesem Anspruch daherkommt, dann wird das selten funktionieren. Es sei denn, der Staat sorgt dafür, dass Gebäude überhaupt nicht mehr saniert werden, um Mietsteigerungen wie die der Frau zu vermeiden.
Viele im Staat wollen ja Gebäudesanierungen: energetische zugunsten des Klimaschutzes.
Na ja, da bin ich skeptisch. Sehen Sie sich den europäischen Anteil am globalen CO2-Ausstoß an und dabei wiederum den deutschen! Und dann setzen Sie den natürlichen und den menschengemachten CO2-Ausstoß ins Verhältnis. Ich glaube, wir kämpfen und finanzieren hier an einer Stelle, deren klimapolitische Auswirkungen im Verhältnis zum Mitteleinsatz überschaubar sind.
Wir können uns die ganze Energiewende also sparen?
Nein, ich sage nur, dass das Geld für energetische Gebäudesanierungen in anderen Ländern besser investiert wäre, in der Zusammenarbeit mit Ländern wie Indien, Brasilien oder China. Dort könnten wir wohl mit geringerem Mitteleinsatz eine wesentlich größere Wirkung auf das Weltklima erzielen.
Mit der Energiewende ist es wie mit dem Mindestlohn: Alle wollen es ja angeblich irgendwie. Wie sieht Ihr Mindestlohnmodell aus?
Wir werden das nach Branchen und regional differenziert machen. Ein allgemeiner Mindestlohn für 8,50 Euro zielt für weite Teile des Arbeitsmarktes ins Leere. In der gesamten industriellen Fertigung gibt es viel höhere Löhne. Gewerkschafter sagen mir dann, der Mindestlohn sei ja nur das Auffangnetz, aber ich glaube eher, dass das dazu führen würde, dass sich einige Branchen mit heute höheren Tarifvereinbarungen auf die 8,50 Euro zurückfallen lassen.
Bei all Ihrer Sorge um die Arbeitnehmer: Was würde ein regional spezifiziertes Mindestlohnmodell für Berlin bedeuten?
Ich denke, dass Berlin in vielen Branchen über 8,50 Euro liegen würde. Die Friseurbranche zum Beispiel sagt mir, sie zahle 8,50 oder 9 Euro in der Stadt. Draußen in Neuruppin sieht das natürlich wieder ganz anders aus, und auch Bereiche wie das Sicherheitsgewerbe oder der Gartenbau lägen in Berlin vielleicht darunter.
In Berlin lebt jedes dritte Kind in einer Familie, die Hartz IV bezieht. Warum ist das so?
Weil die Stadt sich nicht um Wirtschaftskraft und Ansiedlung kümmert. Das sieht man immer wieder, wenn bei Projekten wie Mediaspree eine regelrechte Hysterie entfacht wird – selbst wenn das gar keinen Gebäudebestand berührt, sondern nur Industriebrachen. Trotz allem wird da erst mal die Haltung an den Tag gelegt: Das Projekt muss verhindert werden!
Sie meinen Proteste wie den gegen die Bebauung von Flächen entlang der East Side Gallery?
Ja, da kommt der grüne Bezirksbürgermeister, genehmigt die teilweise Abtragung der Mauer und steht hinterher mit anderen Politikern auf der Seite der Demonstranten, um gegen seine eigene Genehmigung zu demonstrieren. So etwas spricht sich schon rum, und gerade im Zusammenhang mit dem BER-Debakel entsteht dann das Image: In Berlin kann man vielleicht sein Geld ausgeben, aber nicht investieren. Da wächst der Tourismus – gleich wird demonstriert: Scheißtouristen und -schwaben! Das führt dazu, dass die Stadt wenig eigene Substanz anlegt. Ich habe das Gefühl, das alles ist ein politisch gewollter Zustand.
Was meinen Sie?
Je mehr sozial Schwache, desto mehr politische Basis für den Großteil der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien: SPD, Linke, Grüne und Piraten.
Hilft es den vielen langzeitarbeitslosen Berlinern, wenn die Vertriebszentrale von Daimler ans Spreeufer zieht?
Nein, nicht unmittelbar. Den Langzeitarbeitslosen würde helfen, wenn hier auch viele mittelständische Unternehmen ankommen und sich eine gewisse industrielle Fertigung wieder ansiedelt. Berlins Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht: Super attraktiv, die Immobilien sind relativ günstig, im internationalen Maßstab sowieso, wir haben hier eine exzellente Hochschullandschaft, wir haben Flächen und vielleicht ja doch irgendwann mal einen größeren Flughafen. Aber kleinere und mittelständische Betriebe brauchen das Gefühl, dass sie hier willkommen sind und dass man sich um sie kümmert. Beim Standortmarketing, bei den Steuern und im Schulwesen müsste sich in Berlin einiges tun.
Was müsste sich denn im Schulwesen tun?
Es müsste ein anderes Verständnis von Vorbereitung auf die spätere Arbeitswelt einziehen. Ich sage das mal provokant: Da muss mehr Elitebewusstsein rein. In jeder öffentlichen Schule muss das Ziel sein, nicht nur die kognitiven Fähigkeiten von Kindern zu fördern, sondern auch Benehmen, Haltung und die Kompetenz, zum Beispiel einen flüssigen Vortrag zu halten. Ich habe das Gefühl, dass da oft genau das Gegenteil betrieben wird.
Schulen bringen Kindern schlechtes Benehmen bei?
Nein, aber Kindern wird eher signalisiert, dass das alles keine Rolle spielt, dass man zur Begrüßung auch sitzen bleiben und die Hände in den Hosentaschen behalten kann, dass man relativ ungepflegt rumlaufen kann. Und dann wundern die sich hinterher, dass sie auf dem Arbeitsmarkt auf Ablehnung stoßen. Ein möglicher Arbeitgeber müsste denen eigentlich die Wahrheit sagen: Pass mal auf, versuch es noch mal von vorne! Macht aber keiner.
Warum nicht?
Weil ein Arbeitgeber mit diesen ganzen Antidiskriminierungsgesetzen dann in Teufels Küche käme. Also kriegt der Bewerber die Absage mit einem Standardschreiben. Dann laufen die Leute von einem zum anderen und haben nie vermittelt bekommen, woran es wirklich liegt. Das ist nicht sozial, das ist genau das Gegenteil: Gleichmacherei, alle haben gleiche Rechte, und Kinder können überhaupt machen, was sie wollen. Das Ergebnis ist, dass die Oberschicht ihre Kinder etwa auf Internate, englische Schulen schickt und die Spreizung sich verstärkt.
Allein in Berlin gibt es knapp 130.000 Menschen, die sowohl Arbeit als auch Anspruch auf Sozialleistungen haben, also sogenannte Aufstocker sind. Denen wollen Sie mit mehr Elitebewusstsein helfen?
Wissen Sie, ich bin in den siebziger Jahren in Bayern zur Schule gegangen. Zumindest damals war das kostenfreie bayerische Gymnasium für jedermann das Nonplusultra, nicht die Privatschulen.
Und?
Das muss das Ziel von Schulpolitik sein, sage ich als Wirtschaftspolitiker: dass die öffentliche Schule top ist. Das ist echte Sozialpolitik. Sozial heißt für mich, jedem, egal aus welcher Familie, zu vermitteln, was später gefragt ist. Auch außerhalb der rein kognitiven Fähigkeiten. Sonst hat der oder die keine Chance.
Wie sehen Sie denn die Chancen für Ihr Ziel, den Flughafen Tegel offen zu halten?
Wir müssten aus der Tempelhof-Debatte gelernt haben, dass es keinen Sinn hat, Flughafenkapazitäten vom Netz zu nehmen, bevor die neuen am BER vollständig da sind. Selten habe ich solch eine Bestätigung meiner politischen Haltung erlebt wie bei dieser Tempelhof-Geschichte. Wir haben dringend gewarnt: Tempelhof können wir immer noch schließen, wenn die neuen Kapazitäten voll am Netz sind. Aber Wowereit und der Senat haben wahnsinnige Energie reingelegt, den Flughafen zu schließen.
Und keiner wird ihn mehr öffnen?
Ja, aber wir könnten ihn natürlich gerade wahnsinnig gut gebrauchen. Jetzt ist man in der doofen Situation, in Tegel noch eine Halle und noch eine Halle anbauen zu müssen. Meine Forderung ist: Bevor der BER nicht vollständig in Betrieb ist und auch feststeht, dass die dortigen Kapazitäten in den nächsten zehn, zwanzig Jahren voll ausreichen, sollten wir gar nichts mehr dichtmachen. Und stattdessen eruieren, ob es Sinn macht, Tegel zumindest partiell in Betrieb zu lassen. Man bräuchte ein Konzept, das alle Vor- und Nachteile eines Parallelbetriebs beider Flughäfen abwägt.
Die Menschen im Norden Berlins werden Sie lieben für diesen Vorschlag.
■ Am 22. September wird der neue Bundestag gewählt. Die taz stellt die Spitzenkandidaten der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien vor: jene Politiker, die auf Listenplatz 1 ihrer Partei stehen. Den Auftakt machte am 2. Juli Monika Grütters (CDU), danach folgten Cornelia Otto (Piraten), Gregor Gysi (Linke) und Renate Künast (Grüne). Am kommenden Dienstag erscheint ein Interview mit Eva Högl (SPD). (taz)
Natürlich ist die Belästigung der Anwohner ein Aspekt, den man abwägen muss. Aber man muss mit den Leuten eine offene und ehrliche Debatte führen, nicht nur über dieses Flughafenthema: Wie viel Mobilität, Infrastruktur und Industrie will dieses Land hier eigentlich? Einerseits wollen alle 15.000 Produkte im Supermarkt und Flüge nach Mallorca für 38 Euro. Andererseits hat das alles mit Verkehr, Flugrouten und natürlich auch mit Belästigungen zu tun. Ich bin da für eine ehrliche Debatte, ich stelle mich auch in Pankow, in Tegel hin und sage das den Leuten.
Die FDP ist 2011 aus dem Abgeordnetenhaus geflogen. Warum bekommen die Liberalen in Berlin keinen Fuß auf den Boden?
Kriegen wir doch. Aber wir stehen vor zwei großen Herausforderungen: Berlin ist eine Stadt mit wesentlich weniger bürgerlicher Grunddichte als in Flächenländern wie Hessen und Baden-Württemberg. Dort gibt es einen wirtschaftlichen Mittelstand und eine breitere bürgerliche Mittelschicht, die uns naturgemäß nahestehen. Das bringt es dann mit sich, dass wir hier weniger Koalitionsaussichten haben. Aber gerade potenzielle FDP-Wähler blicken oft darauf, ob sie mit ihrer Stimme hinterher eine Gestaltungsmehrheit bekommen. Bei unserem Wählerpotenzial gibt es wenige, denen es egal ist, ob die Partei regieren wird oder nicht.
Vielleicht spielt ja auch der geringe Frauenanteil eine Rolle. Auf Ihrer Landesliste für den Bundestag gibt es keine Frau, unter den Direktkandidierenden gerade mal eine.
Entschuldigung, aber das kann man nicht so isoliert betrachten. Im Europaparlament haben wir einen Sitz für Berlin, und das ist eine Frau, im Landesvorstand sitzen überproportional viele Frauen. Das heißt nicht, dass wir nicht noch mehr fähige Frauen haben sollen, die in Verantwortung stehen. Wir werden in der kommenden Zeit darüber intensiv zu diskutieren haben, wie wir dieses Ziel erreichen. Oftmals sind aber auch Frauen in weniger hohem Maße bereit, für einen Vorstand oder ein Mandat zu kandidieren. Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang unbedingt die Formen, Orte und Zeiten unserer innerparteilichen Arbeit attraktiver machen müssen. Vor allem für Frauen, die im Berufsleben stehen und das oftmals noch mit Familie in Einklang bringen.
Wo landet die FDP bei der Bundestagswahl?
Ich schätze, irgendwo zwischen 7 und 10 Prozent.
Gegen wen würden Sie dann lieber in die Opposition: Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün?
Wir wollen weiterregieren. Die Stimmung hat sich vor allem in den letzten beiden Monaten rapide gedreht, das ist meine Einschätzung. Zu mir kommen jetzt wieder Besucher, völlig parteiungebunden, die hatten sich noch vor einem Jahr nicht mehr blicken lassen. Jetzt stellen sich die Leute zunehmend auf eine Fortsetzung der schwarz-gelben Regierung ein.