MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER : Freie Sicht auf freie Bürger
Seitdem Omas Gardinen weg sind, sind wir die Big Brothers der Kleinstadt. So sieht es jedenfalls die Jugend von heute
Weg mit den alten Zöpfen: Großmutters Spitzengardinen haben wir endgültig abgehängt, in ihrem ehemaligen Zimmer ist nun ein Wohn- und Arbeitsraum. Von dort aus hat man einen schönen Blick auf die mit Kopfsteinpflaster belegte Straße, in der die ältesten Häuser des kleinen Städtchens stehen. Umgekehrt funktioniert es auch ganz gut. So hat sich neulich die schwer gelangweilte, kleinstädtische Jugend vor unserem Fenster versammelt, um mal zu gucken, wie wir so gucken. So besonders viel passiert ist nicht, wir haben bloß Linsensuppe gegessen.
Bei „Big Brother“ ist das eigentlich nicht anders, bloß dass ab und zu mal jemand duschen geht. Bei uns liegt das Badezimmer allerdings im ersten Stock, absolut tote Hose. Keine sexuellen Ausschweifungen, kein Krach, nichts. Dennoch scheint die örtliche Jugend die Faszination des wirklichen Lebens für sich entdeckt zu haben, wenn auch nur über den Umweg des Fernsehens. Aber warum kulturkritisch daran herumnörgeln, ist doch schön, wenn sich die jungen Menschen interessieren und Fremdem gegenüber aufgeschlossen sind.
In der kleinen Ackerbürgerstadt ist ansonsten überhaupt nichts los. Der örtliche Jugendklub, früher Aufmarschgelände der FDJ und Schauplatz wildester Jugendtanzveranstaltungen, ist schon lange geschlossen. Es gibt keine jugendgerechten gastrokommerziellen Ausweichquartiere, und die Bushaltestellen, üblicherweise Sehnsuchtsort jener 14- bis 17-Jährigen, die weder Fisch noch Fleisch sind und sich irgendwohin sehnen, wo alles ganz anders und vor allem richtig ist, sind nicht einmal überdacht. Das ist doch nichts.
Ein Kino gibt es auch nicht, stattdessen hat das Amt für Denkmalschutz in der angrenzenden Straße ein Schild aufgehängt: „In diesem alten Gasthaus-Saal, der früher auch als Kino genutzt wurde, sprach einst Karl Liebknecht zu den Arbeitern der Stadt“. Na super, denkt sich da die Jugend. Was bleibt ihnen also anderes übrig, als zu uns zu kommen und ans Fenster zu klopfen. Herumzualbern und blöde Sprüche zu machen. Es sind die einzigen bewegten Bilder, denn alle anderen Bürger haben sich hinter blickdichten Gardinen verschanzt, durch die lediglich das bläuliche Licht der Glotzen durchschimmert. Wer hier abends spazieren geht, fühlt sich, als hätte er sich aus Versehen in die Filmkulisse des Helge Schneider Films „Praxis Dr. Hasenbein“ verirrt, eine irrwitzige Karikatur kleinstädtischer 50er-Jahre-Tristesse in grau.
Also weg mit den Ado-Gardinen, freie Sicht auf freie Bürger! Bei uns brennt immer ein wärmendes Lichtlein, das den Eingeborenen Trost zu spenden in der Lage ist, insbesondere natürlich der sich ödenden Jugend. Wir senden rund um die Uhr eine frohe Botschaft aus unserem Big-Brother-Fenster, drum herum streichen wir die Fassaden bunt und pflanzen Bäumchen, laden Menschen aus aller Herren Länder zum Kaffeetrinken ein. Wenn sich die Bürger der kleinen Stadt nicht vorsehen, herrschen dort – ruck, zuck! – niederländische Verhältnisse, die fehlenden Gardinen sind da nur ein symbolischer Anfang. Und dann ist wirklich Schluss mit DDR-Spielen, als ob nie was gewesen wäre, zerkochtem Mischgemüse und schlechter Laune.
Wir haben uns überlegt, dass wir uns nun um die Programmgestaltung kümmern müssen, schließlich haben wir einen Bildungsauftrag. Geplant sind unter anderem öffentliches Bücherlesen und zur Unterhaltung drei Runden „Mensch, ärgere dich nicht“-Spielen. Oder kochen? Dann müssten die Jungs und Mädels allerdings in den Hinterhof kommen, sonst sieht man nichts.
Jedenfalls wurde mir das Gejohle, Geklopfe und Gequietsche irgendwann zu viel. Ich stellte den Suppenteller ab und ging entschlossenen Schritts auf die Haustür zu. Bis ich sie endlich geöffnet hatte, war die kleinstädtische Jugend unter lauten Panikschreien um die nächste Ecke. Als ob Dagmar Berghoff plötzlich aus dem Nordmende-Fernseher gekrochen wäre, einen Baseballschläger in der Hand. Ich weiß gar nicht, ob die wiederkommen. Schade eigentlich.
Fragen zur Gardine? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL