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Archiv-Artikel

Lied zur großen Koalition

Texas Lightning mit Olli „Dittsche“ Dittrich vereitelten Schnulzenbacklash beim Vorentscheid zum Grand Prix am Donnerstag in Hamburg: mit einem uncoolen Countrylied namens „No No Never“

VON JAN FEDDERSEN

Mittags, noch vor der Generalprobe, wurde im Foyer des Hotels Reichshof kolportiert, sei der neue Unterhaltungschef Jan Schulte-Kelling gesehen worden, die Arme ängstlich vor der Brust verschlungen, sein Blick Nervosität verströmend. Wird er eine Show verantworten müssen, die auf Retro setzt und doch keine bessere Einschaltquote – die Fernsehwährung, die Lob oder Tadel ausdrückt – erzielt als voriges Jahr? Kann der Nachfolger von Jürgen Meier-Beer in diesem Job den ramponierten Ruf bessern helfen? Werden nach den anderthalb Stunden die Menschen glücklich sein mit dem Siegerlied, wenigstens einverstanden und nicht so übel gelaunt wie vor Jahresfrist, als Gracia Baur mit „Run & Hide“ gewann, weil das Televoting-Publikum Pest besser als Cholera (ein Ralph-Siegel-Duo) fand. Und wird sich schädlich auswirken, was an jenem Tag via Bild-Zeitung berichtet wurde: Nicole, die vom bisschen Frieden, wolle nicht nach Hamburg, weil sie nur 40 Sekunden Einsatz bekomme?

Joy Fleming, einst, in den frühen 70ern, Teil jenes Blues-Undergrounds, der nie mit Schlagern zu schaffen haben wollte, und doch Grand-Prix-Ikone („Ein Lied kann eine Brücke sein“) geworden, saß an einem Speisetisch jenes Hotels, äffte Nicole nach und sagte: „Die vermisst niemand.“ Dann rief er Mary Roos zu: „Gell, Mary, der Thomas und die Vicky, die haben’s doch net so mit der Intonation, gell?“ Die sagte nur missmutig-halbfreundlich: „Ach, Joy, ist doch nicht so schlimm.“

Die Mannheimerin Fleming jedenfalls schwelgte, ehe noch die erste Sendeminute verstrichen war, über die „Eleganz“ des Showkonzepts, „so feierlisch“, „ei eschte Vorentscheidung, gelt?“, bei der es um Lieder, nicht um Klamauk oder Comedy gehe.

Altmodische Eleganz

Während sie dies sagte, sah man im Foyer Lys Assia, die erste Grand-Prix-Siegerin überhaupt, 82 Jahre, wie sie sacht hin und her stöckelt – wurde aber nicht so recht wiedererkannt. Thomas Anders, die Exhälfte von Modern Talking, hielt derweil Hof im Kreise seines Fanclubs: „Ich bin gut drauf“, sagte er und ließ eine Flasche Sekt ordern. „Wird schon“, sagte eine jüngere Frau – sie sollte sich ziemlich irren.

Dass sich Vicky Leandros kein Bad in der Hotelmenge leisten würde, war, wie man die gebürtige Griechin kennt, ohnehin klar. Nur der dritte Akt ließ so gar nichts spüren von Anspannung: Texas Lightning, eine Countryband mit einer seit ewigen Zeiten in Hamburg lebenden Australierin als Frontfrau, Jane Comerford. Allesamt generationell im mittleren Oldie-Segment, hatten sie ein Lied einstudiert, das luftig, frisch und unverbraucht klang: „No No Never“. Oli „Dittsche“ Dittrich ist der Schlagzeuger der Gruppe, der Mann aus der berühmtesten Fernsehimbissbude der Republik, der mit Wigald Boning einst „Mief“ zum Hit machte und auch bei Adolf-Grimme-Preis-Leuten guten Kredit genießt. Nie, keine einzige Halbsekunde, sieht man ihn schütter oder aufgeregt.

Jedenfalls, auch dies war das Gerede beim Hotelfoyerfunk vor der Show, die Countryjungs, die seien toll – aber haben sie eine Chance gegen Anders & die Leandros? Sie hatten. Dem Vernehmen nach ziemlich haushoch gewannen sie das Tele- und SMS-Voting gegen die beiden wackeren Schnulziers. Das Publikum im Hamburger Schauspielhaus spielte Fußballstadion, ließ Texas Lightning hochleben. Mehr Applaus noch, als Dittrich schließlich „No No Never“ abermals zu singen vorschlug: akustisch nur, ohne Mikrofone, „der Ulrich Tukur schafft das doch auch“. Und das Auditorium schnippte sehr sacht im Takt mit: ein Hauch von Magie – ein Publikum ganz einverstanden mit dem Resultat. Georg Uecker, Thomas Hermanns, Joy Fleming, Lucy (von No Angels, angebliche Grand-Prix-Experten, total nervig), Dirk Bach lobten später diese Szene – und überhaupt die warmherzige Atmosphäre, die diese Vorentscheidung zu einer Eurovision ausgezeichnet habe.

Anderntags wird der NDR Zufriedenheit signalisieren. 5,28 Millionen Zuschauer guckten zu, das ist nur knapp unter dem Wert, den man vor zwei Jahren erzielten, als Max Mutzke gewann – aber deutlich mehr als die 3,56 Millionen, die man letztes Jahr hatte. Ob es dem Sender zu denken geben muss, dass man in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen an Zuschauern verlor (300.000), ist eine Frage der Perspektive: Will die ARD ihr Kernpublikum (45 plus) halten und stärker binden? Oder experimentiert man auf neuen Wegen, würde damit aber die Kundschaft verprellen? Im werberelevanten Segment der frühen und erweiterten Jugendlichkeit hatte Stefan Raabs „Bundesvision“ vor einem Monat erklecklich mehr zum Sehen verführt.

Samt und Plüsch

Die Show aus dem Hamburger Schauspielhaus jedenfalls war die Perfektion dessen, was an Retro-Grand-Prix-Show zu haben ist: ein feiner Moderator, der verdiente Schlagerinterpreten sogar zu Backgrounddamen degradieren kann (Ingrid Peters, Michelle), ein Expertengremium, das dem Umstand, dass der Grand Prix die Musik-EM der Schwulen ist oder sei, auch personell Rechnung trug – und eine Location, die gewöhnlich die (freilich sterbende) Kunst des Theaters beherbergt, samt Kristalllüster, Samt und Plüsch.

Claudia Roth, grüne Grand-Prix-Expertin, schimpfte hinterher: „Mir war das alles zu einseitig. Die Gewinner sind gut. Aber die musste man ja wählen – der Rest wäre ja ein Votum für die Steinzeit des Pops gewesen. Die Sieger waren so zwangsläufig wie die große Koalition. Opposition? Unerwünscht.“ Das Publikum will, zeitgeistpassend, nur ein bisschen Schlagerfrieden.