Was der Mensch mit den Worten macht

SPRACHE Daniel Everett, bekannt für seine linguistischen Forschungen im Amazonasgebiet, erklärt die Sprache in seinem neuen Buch zum „Kulturwerkzeug“

Everetts berufliche Vergangenheit als Missionar trägt viel zu seinem rhetorischen Schwung bei

Es ist im Grunde eigenartig, dass gerade das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, in seinem Ursprung immer noch so umstritten ist. Zwar sind die Sprachen der Welt so erforscht wie noch nie. Doch über eine allgemeingültige Theorie, die befriedigend erklären würde, warum der Mensch spricht und was genau ihn im Unterschied zu allen anderen Primaten dazu befähigt, denkt man sich immer noch die Köpfe heiß. Der US-Amerikaner Daniel Everett, Professor am Bentley College bei Boston, hat zwar keine neue Sprachtheorie entworfen, aber seiner Disziplin durch die inspirierte Interpretation von Ergebnissen seiner vieljährigen Feldforschung wichtige Impulse gegeben.

„Language. The Cultural Tool“ heißt Everetts neues Buch im Original, ein Titel, der direkt in Konfrontation geht zu Steven Pinkers einflussreicher Veröffentlichung „Der Sprachinstinkt“ von 1994. Darin wurde die These Noam Chomskys, die Fähigkeit zur Beherrschung und Bildung komplexer Sprachen sei dem Menschen genetisch eingeschrieben, erstmals für ein breiteres Publikum erläutert.

Nachdem die Chomskyaner mit ihrem Fokus auf formale Grammatik jahrzehntelang die Linguistik dominierten, scheint das Pendel der Forschung derzeit wieder in die andere Richtung zu schwingen und die Pragmatik, die auf die Handlungsaspekte von Sprache fokussiert, mehr ins Zentrum zu rücken. Mit der programmatischen Bezeichnung der Sprache als „Werkzeug“ bzw. als „Erfindung“ stellt Everett sich in eine direkte argumentative Linie mit „How To Do Things With Words“, einem Aufsatz, mit dem der britische Philosoph John Austin 1962 den Grundstein zur Sprechakttheorie legte.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob das Pendel der wissenschaftlichen Deutungshoheit sich jemals in der Mitte einschwingen wird. Wie Everett vom Chomskyaner zum Pragmatiker wurde, ist nachzulesen in seiner fesselnden Forschungsreportage „Das glücklichste Volk“, die 2010 in deutscher Übersetzung erschien. Nun mischt er munter mit im Kulturkampf, den die Linguisten unter sich austragen. Diesen darzustellen und gleichzeitig Belege dafür zu liefern, dass die eine Seite mehr recht hat als die andere, ist das Anliegen seines neuen Buches.

Seine berufliche Vergangenheit als Missionar trägt viel zu dem rhetorischen Schwung bei, der seine Darstellung so überzeugend macht. Sie ist selbst dann noch lebendig, wenn es darum geht, Grundlagen der Linguistik verständlich zu erläutern. Da „Die größte Erfindung der Menschheit“ auch solche Menschen von der These der Sprache als Werkzeug überzeugen soll, die nicht Teil des Fachpublikums sind, macht Everett es nicht unter einem inhaltlichen Rundumschlag.

Aristoteles als einen der wichtigsten Zeugen zu berufen, ist ein geschickter Schachzug: Aristoteles habe den Menschen als soziales Wesen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt und die Sprache aus dem Willen und der Notwendigkeit zur Kommunikation abgeleitet. Everett macht daraus argumentativ den „Interaktionsinstinkt“ und geht in Schulterschluss mit dem großen Griechen, um Pinkers „Sprachinstinkt“ mit einem machtvollen Gegenkonzept zu kontern. Im Grunde ist das gar nicht nötig, denn Everett ist in der Lage, seine „Kulturwerkzeug“-These mit vielen Beispielen aus der eigenen Forschung überzeugend zu unterfüttern.

Das liest sich anregend und überzeugend. Doch auch wenn man der Argumentation gern folgt, kann sich der paradoxe Fall einstellen, dass man sich mitunter wünscht, die Leistungen der Chomskyaner (der „Nativisten“) verteidigen zu dürfen. Denn obgleich der Autor sehr bemüht ist, alle Positionen darzustellen, ist die dahinter liegende Absicht eindeutig polemisch.

Gerade ein Gebiet, das sich ganz besonders eignet, die Angemessenheit der „Angeboren“- versus der „Erfindungs“-These gründlich zu überprüfen, wird von Everett sehr kurz abgehandelt: die Kreolsprachen. Als solche werden Sprachen bezeichnet, die über die komplexe Grammatik einer vollwertigen Sprache verfügen, sich aber aus einer rudimentären Pidgin-Sprache entwickelt haben. Während die Kreolsprachen von den Nativisten stets als Beleg dafür angeführt wurden, dass es dem Menschen genetisch bestimmt sei, nach einer komplexen Syntax zu streben, gibt es neuere Arbeiten, die die Kreolisierung mit der Nachahmung bekannter Muster erklären – eine Position, die auch Everett vertritt. Es wäre spannend, hier mehr zu erfahren. Doch der Autor belässt es bei der recht kurzen Darstellung der eigenen Position und der Feststellung, dass es verschiedene Meinungen gebe.

Eigentlich schade, dass das implizite Regelwerk der Wissenschaft von allen Angehörigen der Zunft verlangt, sich zu einer bestimmten Schule zu bekennen. Dieses Buch ist Everett deutlich kämpferischer geraten als noch „Das glücklichste Volk“, in dem er nachwies, dass Chomsky nicht in allen Teilen recht haben kann. Und dabei wäre gerade einem so beweglichen Geist wie Everett zuzutrauen, eine Synthese zu wagen zwischen zwei äußerlich konträren wissenschaftlichen Auffassungen, deren scheinbare Unversöhnlichkeit zum Teil sicherlich auch zurückzuführen ist auf die Lust am akademischen Disput. KATHARINA GRANZIN

■ Daniel Everett: „Die größte Erfindung der Menschheit. Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprache gelehrt haben“. A. d. Engl. v. H. Stadler. DVA, München 2013, 463 S., 24,99 Euro