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Archiv-Artikel

Selbst die Regie ergreifen

Erst war es die Lust an langen Bildgeschichten, dann die Suche nach neuen Lesern, schließlich die Liebe zu anderen Künstlern: Ulli Lust findet täglich neue Gründe für die Zukunft des Comics im Internet

Gerade erst hat sie auf der Comic-Messe in Neapel neue Gesichter und Finger gesucht

VON PATRICK BAUER

Mit ins Bett nehmen kann man sie ja doch. Die Comics, die auf electrocomics veröffentlicht werden. Die einzige Vorraussetzung dafür: ein Laptop. Wobei die traditionsbewussten Verfechter des Comics auf Papier, die Ulli Lust, die Gründerin des electrocomics-Projekts, in ihrer verschmitzten Art „Nostalgiker“ nennt, einen solchen wahrscheinlich nicht besitzen. „Gut, die werden eh nicht vorbei schauen“, sagt Lust.

Auf electrocomics.com nämlich, wo die Geschichten auf dem Bildschirm bleiben und das Geld allenfalls per PayPal gezahlt wird. Gezahlt werden kann. Denn was Lust im letzten Sommer als „Fair-Trade“-Online-Angebot gestartet hat, beruht genau genommen auf Freiwilligkeit. Die E-Comics können mit 1,50 Euro vergütet werden – doch bisher waren nur rund 10 Prozent der etwa 800 monatlichen Leser dazu bereit. Und dennoch sagt Ulli Lust: „Ich bin völlig zufrieden mit der Entwicklung.“ Schließlich befindet sie sich noch in der Anfangsphase eines Projekts, das eine Vision für die Zukunft des Comics sein will.

Ulli Lust ist selbst alles andere als ein Fan moderner Technik. Sie bezeichnet sich sogar als „Prototyp einer Nostalgikerin“. Lust, 38 und Österreicherin, ist zuallererst Fan von narrativen Comics. In ihrer Heimat war sie lange Zeit Kinderbuchillustratorin, weil es keinen anderen Platz gab für Zeichnerinnen mit Hang zum Geschichtenerzählen und dem Drang, Regisseurin der eigenen Figuren und Storys zu sein. Erst als sie vor zehn Jahren nach Berlin kam, um an der Kunsthochschule Weißensee Grafikdesign zu studieren, durfte sie endlich „für Erwachsene arbeiten“. In Weißensee lernte sie auch, mit Computern umzugehen. Wobei sie nach wie vor täglich bis zu acht Stunden am Zeichentisch sitzt.

Denn reine Computergrafiken gibt es selbst auf electrocomics.com noch nicht zu sehen, nicht weil Ulli Lust dogmatisch ist, sondern weil da noch die Qualität fehlt. Als ein Freund sie davon überzeugte, dass Comics als PDF-Datei gar nicht pixeln, sondern eine schöne und glatte Grafik haben können, eröffnete sich ihr eine Welt. Plötzlich war es ihr möglich, lange Geschichten ohne Verlust auf dem Bildschirm präsentieren zu können. Und lang müssen sie sein, „um die 30 Seiten“, sagt Lust.

Geschichten: Die verbinden alle zwölf bis dato hochgeladenen Arbeiten unterschiedlichster Künstler. Da gibt es die lebendig getextete, charmante Roadmovie-Ästhetik wie in der von Lust selbst gezeichnete Trilogie „Heute ist der letzte Tag meines Lebens“ und den schwarz-weißen Minimalismus des Italieners Giacomo Monti, der mit „Zimmer“ verstört und verzaubert. Ob nun eher abstrakt oder fast schon fotorealistisch, alle Alben verbindet die Suche nach Randerscheinungen, nach merkwürdigen Charakteren und banalen Episoden.

In Kati Rickenbachs dreiteiligem „Filmriss“ halten Augenblickaufnahmen den Leser gefangen: ein Junge, ein Mädchen, eine Stadt und der Morgen nach der Party. Der verzweifelte Versuch, Geschehenes zu rekonstruieren. Das mag zunächst simpel tönen, zumal die einfachen Schwarzweißkontraste Harmlosigkeit suggerieren. Aber Rickenbach erzählt in keinem der vier Fenster pro Seite Unnötiges. In klaren Linien, temporeichen Bildausschnitten entwirft sie Alltagsmomente, die wie gerade erst erlebt erscheinen. Und dann ist auch schon alles gelesen, Frauen haben sich von Männern getrennt, Typen haben geweint, Freundinnen nach sich selbst gesucht. Rickenbach hat einen entführt, in eine charmante Welt, aber auch in den Vollbildmodus des Bildschirms. Die unkonventionelle Comic-Rezeption verhindert ganz und gar nicht das Versinken.

Die schöne Aufmachung von electrocomics.com mag ein Tribut sein an die Skeptiker, an den Stolz von Comicladen-Aficionados, denen ein Buch wertvoller ist als Digitales, eigentlich jedoch will Lust mit ihrer Plattform auch jene erreichen, die sich eben nicht in den eingeweihten Dunst der Freakzonen wagen. „Auch die Berliner Comic-Szene ist wahnsinnig toll und produktiv, aber doch ein netter Low-Budget-Kreis für sich“, sagt Lust.

Das bedeutet nicht, dass sie electrocomics aus Frust gestartet hat, eher aus der programmatischen Lust heraus, „rumspielen zu können“. Aber besonders auch, um sich weiter zu vernetzen. „Künstler aus aller Welt habe ich schon immer gern getroffen“, sagt sie. Gerade erst hat sie auf der Comic-Messe in Neapel neue Gesichter und Finger gesucht – und viel begeisterte Resonanz auf ihr Projekt bekommen. Sie wirkt ernsthaft verliebt in den Gedanken, die Independent-Szenen aller Kontinente auf electrocomics.com zu verarbeiten. Bald wird ein japanischer Künstler eine Geschichte beisteuern. „Der Drang, mit anderen zu arbeiten, kommt bei uns sicher daher, dass wir den ganzen lieben Tag isoliert zu Hause sind“, sagt Lust, die von ihrer Kreuzberger Altbauwohnung aus arbeitet.

Wohin es mit electrocomics.com noch gehen soll? Hauptsache, es wächst weiter, wird internationaler und braucht nicht allzu viel organisatorischen Aufwand. In Richtung Verlag muss es also nicht gleich gehen. Wobei: „Wenn ich willige Praktikanten finde …“, lächelt Ulli Lust. Hauptsache, sie muss nicht ständig zur Post laufen. Das ist ihr dann doch zu nostalgisch.

www.electrocomics.com www.ullilust.de