Geheime Tagungen

Werden die Archivbestände des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen endlich der Forschung zugänglich gemacht?

Ausdrücklich bekennt sichdas Auswärtige Amt zurÖffnung der Archive. Wo sitzen dann aber die Saboteure?

Seit vielen Jahren das gleiche Bild der Endlosschleife. Dringende Appelle von Wissenschaftlern, Museumsleuten und Archivaren, endlich die Archivbestände des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen der Forschung zugänglich zu machen. Gefolgt von der Zusicherung, dies werde bald geschehen, nur noch zwei, drei Jährchen. Und jedes Mal geschieht nichts. So wird es auch sein, wenn sich die Internationale Kommission, die über den Aktenschatz wacht, in wenigen Wochen in Luxemburg zu ihrem Jahrestreffen versammelt.

Der ITS ist eine Gründung aus der Zeit des 2. Weltkriegs, ursprünglich von den Alliierten ins Leben gerufen, um Informationen über das Millionenheer der von den Nazis verschleppten, in den KZs ermordeten, zur Arbeit gezwungenen Opfer zu sammeln. Zu den „Urbeständen“ des Archivs gehören die Personenakten, die in den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial dienten. Im Lauf der Jahrzehnte kamen Hunderttausende von Rentendokumenten, Arbeitsbüchern und Melderegistern der Kommunen hinzu, einschließlich derer aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. In der Zentralen Namenskartei, dem Herzstück des Archivs, finden sich heute 45 Millionen Einträge zu 17 Millionen Verfolgten. Noch immer wächst der Bestand.

Der ITS hat stets betont, dass Hilfe für die Verfolgten des NS-Regimes im Zentrum seiner Aktivitäten stehe. Aber eine Öffnung der Archive für die historische Forschung wird hierdurch nicht ausgeschlossen, dies umso mehr, als mit dem Abschluss der Entschädigungsverfahren keine großen Suchaufgaben mehr auf den ITS zukommen werden. Die Leitung des ITS weist jeden Vorwurf, auf seiner Politik der geschlossenen Aktenschränke zu beharren, weit von sich. Man würde gerne, aber die Konstruktion des ITS lasse es nicht zu. Diese Konstruktion ist tatsächlich ein monströses Überbleibsel der Nachkriegszeit. Elf Nationen, darunter die Siegermächte, aber auch Deutschland und Italien, bilden die Internationale Kommission, ohne deren einstimmiges Votum die Satzung des ITS nicht verändert werden kann. Die aber schreibt vor, dass jede Information unterbleiben müsse, „which might prejudice the interests of the person or persons concerned or their relatives“. Aus dieser Bestimmung hat der Rat der elf abgeleitet, dass Auskünfte nur an Opfer und an Behörden der an der ITS-Konstruktion beteiligten Staaten weitergegeben werden dürfen.

Die Tagungen dieses Rates sind geheim, sodass unbekannt bleibt, warum die Satzung bislang nicht zugunsten einer offenen Forschungstätigkeit geändert worden ist. In der Vergangenheit wurde argumentiert, eine Öffnung könne dazu führen, das der Datenschutz für „Dritte“, in den Dokumenten Genannte verletzt, dass Informationen bekannt würden, die in die geschützte Persönlichkeitssphäre der Opfer gehörten, zum Beispiel Krankheiten, oder dass Fälle bekannt würden, wo die Opfer gleichzeitig Täter waren, zum Beispiel als Spitzel oder Denunzianten. All diese Einwände sind unerheblich. Sie tauchen auch bei allen anderen Archiven auf und können im Fall der Gefährdung von Persönlichkeitsrechten – zum Beispiel durch Schwärzung – behoben werden. Allerdings würde die Öffnung einen Standard des Datenschutzes voraussetzen. Weshalb es schwierig werden würde, eine Kopie des kompletten Datensatzes von Arolsen (bislang sind 55 Prozent digitalisiert) etwa den USA zu überlassen, wo ein lockerer Datenschutz besteht. Aber was wäre denn schlimm daran, wenn amerikanische Forscher sich – nach Öffnung der Archive – nach Arolsen bemühen müssten?

Das Auswärtige Amt sieht der bevorstehenden Tagung der Internationalen Kommission des ITS optimistisch entgegen. Ist doch im Juni 2005 eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden, um alle bestehenden Bedenken auszuräumen. Ausdrücklich bekennt sich das AA zur Öffnung der Archive. Aber wo sitzen dann die Saboteure? Das Beste wäre es, diesen ganzen Knoten durchzuhauen, die Konstruktion aufzulösen und den ganzen Bestand dem Bundesarchiv zu überantworten. Dann wären die Rechtsstandards ebenso gesichert wie eine fachgerechte Archivierung des historischen Materials, die bislang unterblieben ist.

Geht es hier nur um Begehrlichkeiten von Wissenschaftlern? Keineswegs. In der Bundesrepublik weitet sich die Kluft zwischen den diversen Formen symbolischer Erinnerung und der weiteren wissensgestützten Arbeit mit und an der NS-Vergangenheit. Arolsen mit seinem immensen Fundus an konkreten, die Unterdrückung und das Leiden behandelnden Dokumenten wäre endlich zu erschließen.

CHRISTIAN SEMLER