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Archiv-Artikel

Die Fundamentalreform

ABSTIMMUNG Knapper ging es kaum, aber es hat gereicht für Barack Obama. Der US-Präsident kann das Gesetz zur Reform nun in Kraft setzen, nachdem das Repräsentantenhaus es mit 219 zu 212 Stimmen angenommen hat

Nach Einschätzung der Demokraten kostet die Reform in den nächsten Jahren 940 Milliarden Dollar

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

Drei Abstimmungsdurchgänge im Repräsentantenhaus waren nötig. Dann stand das Ergebnis fest: Der Versicherungsschutz in den USA wird auf 32 Millionen Menschen ausgedehnt. Statt bislang 83 werden künftig 95 Prozent der US-Bevölkerung eine Krankenversicherung bekommen. Das ist zwar noch keine Universalversicherung, kommt ihr jedoch nahe. Darüber hinaus sieht das Gesetz eine stärkere Kontrolle der Versicherungsgesellschaften, Steuernachlässe für kleine Unternehmen und Betriebe sowie die Ausweitung der staatlichen Beihilfen zur Krankenversorgung Bedürftiger vor.

„Wir haben einen neuen Stein in das Fundament des amerikanischen Traums gelegt“, kommentierte Barack Obama kurz vor Mitternacht das Abstimmungsergebnis. Er kann das Gesetz ab sofort unterschreiben und in Kraft setzen, nachdem das Repräsentantenhaus es mit 219 zu 212 Stimmen angenommen hat.

Die Änderungsanträge, denen das Repräsentantenhaus ebenfalls in der Nacht zu Montag zugestimmt hat, müssen hingegen noch durch den Senat gehen. Das soll zwar im „Reconciliation“-Verfahren ablaufen, wobei eine einfache Mehrheit genügt. Aber für die gesetzlich vorgesehene 20-Stunden-Debatte haben die Republikaner bereits energischen Widerstand angekündigt. Sollte es ihnen gelingen, die Änderungsanträge erneut zu verändern, haben Obama und mit ihm alle demokratischen Befürworter der Gesundheitsreform ein Problem. In mehreren Bundesstaaten stehen jetzt Verfassungsklagen von republikanischen Politikern an. Zugleich macht bei der Opposition ein neuer Schlachtruf die Runde: „Repeal“ – der Widerruf. Falls sie bei den Wahlen im November eine Mehrheit erhalten, wollen die Republikaner die Gesundheitsreform rückgängig machen.

Für die Millionen von Nichtversicherten in den USA stellen sich jetzt ganz andere, sehr konkrete Fragen. Dabei geht es um einen Versicherungsabschluss, um Steuernachlässe und um staatliche Beihilfen. Um den besonders Bedürftigen eine medizinische Versorgung zu geben, dehnt das Gesetz auch das Medicaid-Programm aus. Dieses Bundesgesundheitsprogramm betreut Familien, die weniger als 88.000 Dollar Einkommen pro Jahr haben.

Die Reform wird bis zum Jahr 2014 in verschiedenen Etappen umgesetzt werden. Ab sofort müssen Versicherungen die Kinder ihrer Mitglieder bis zum Alter von 26 Jahren mitversichern. In einer Übergangszeit wird es Beihilfen geben, damit kranke Patienten nicht mehr Opfer von Ausschlussregeln wegen „vorab bestehender Krankheiten“ werden. 5 Milliarden Dollar sind dafür vorgesehen, zu zahlen, wenn die Versicherung nicht sofort für die Behandlung einspringt. Vom Jahr 2014 an darf keine Krankheit mehr vom Versicherungsschutz ausgeschlossen werden. In der Übergangszeit wird der Staat auch zusätzliche Beihilfen für Medikamente zahlen. Ab 2014 müssen alle Unternehmen ihre Beschäftigten versichern. Kleinere Unternehmen bekommen im Gegenzug staatliche Unterstützungen. Spitzenverdiener müssen zusätzliche Steuern zahlen. Ab 2014 werden dann also 95 Prozent der US-Bevölkerung erstmals in der Geschichte versicherungspflichtig sein. Wer sich nicht daran hält, riskiert eine Geldstrafe.

Auf die privaten Krankenversicherer kommen mit dem Gesetz neue Regeln und Kontrollen zu. Sie dürfen nicht mehr, wie es bislang viele Versicherungen tun, in den Verträgen mit den Patienten vorab Bedingungen fixieren, die den Versicherungsschutz dann nichtig werden lassen. Und sie dürfen auch nicht mehr ihre Prämien beliebig erhöhen. In den vergangenen Monaten und Jahren war es zu spektakulären Prämienerhöhungen von bis zu 40 Prozent auf einen Schlag gekommen.

Dennoch ist der Protest der Versicherungsgesellschaften beinahe verstummt. Das liegt daran, dass die Reform ihnen erstens die befürchtete staatliche Konkurrenz im Versicherungssektor erspart. Und dass sie dank der Reform – zweitens – eine große Gruppe von zusätzlichen Kunden bekommen, denen der Staat bei der Beitragsfinanzierung unter die Arme greift.

Die besonders teuren Risikopatienten – alte und sozial schwache Menschen – werden ihnen hingegen nicht zur Last fallen. Sie kommen – stärker als bisher – in den Genuss der beiden staatlichen Programme Medicaid und Medicare.

Auch die lange Zeit skeptische Lobby von Ärzten und Krankenhäusern sowie die Pharmaindustrie hat sich zuletzt der Gesundheitsreform zugewandt. Auch ihnen stehen zwar zusätzliche staatliche Auflagen bevor, doch zugleich dürfen sie zusätzliche Patienten – und Umsatzsteigerungen – erwarten.

Nach Einschätzung der Demokraten wird die Gesundheitsreform in den nächsten zehn Jahren wohl etwa 940 Milliarden Dollar kosten. Zugleich erwarten die Demokraten auch, dass der Staat mit der Einführung einer systematischen Gesundheitsversorgung für 95 Prozent der Bevölkerung langfristig viel Geld im Bereich der Notfallmedizin einsparen kann.