: Warten auf das digitale Wunder
Die weltgrößte Computermesse steckt in der Identitätskrise. Weil die Technik immer mehr Industrien revolutioniert, wird die Cebit zu einem großen Gemischtwarenladen
HANNOVER taz ■ Messe für Bürotechnik, Entertainment Mekka oder Forschungsbörse für die digitale Zukunft? Die weltgrößte Computermesse Cebit ist im Jahr 2006 auf Sinnsuche. Zwar hat die Messe die spröde Technikschau der Anfangstage weit hinter sich gelassen, als das „Centrum für Büro und Informationstechnik“ vor 20 Jahren von der Hannover Industriemesse ausgegliedert wurde. Doch der Preis dafür ist ein bunter Gemischtwarenladen.
Nie zuvor war die weltgrößte Computermesse thematisch so breit aufgestellt wie in diesem Jahr. Da wird Unternehmenssoftware für den Mittelstand genauso zelebriert wie die Europameisterschaft der Computerspieler, das digitale Wohnzimmer in Szene gesetzt wie Transportlogistik für den Einzelhandel. Die Cebit ist heute aber auch Messe für Handys und Telekommunikation, Marktplatz für Internet-Technologien und Medienforum für Fernsehsender. Erlaubt ist alles, was irgendwie mit digitaler Technik zu tun hat: „Weltgrößte Messe für digitale Lösungen“ nennt Cebit-Chef Sven Prüser die Ziellosigkeit euphemistisch.
Sie wird häufig beim Flanieren zwischen den 27 Messehallen spürbar. Manchmal weiß der Besucher nicht mehr genau, ob er sich gerade im Gedränge der Verkaufsbuden eines Elektronikflohmarkts in Hongkong oder auf einer missglückten Internationalen Funkausstellung befindet. Auf der Sonderschau „Digital Living“ ist zwar vom inhaltsleeren Marketing-Rambazamba der IFA keine Spur, dafür gleicht die Atmosphäre der Cebit-Sonderschau zum digitalen Lifestyle einer Bahnhofswartehalle. Andere versuchen durch schiere Wucht Eindruck zu hinterlassen: Der Stand der Telekom reicht zwar nur scheinbar bis zum Horizont, doch auch die Bauten von Microsoft, SAP oder Samsung gleichen eher Kleinstädten.
Das Brimborium kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Branche wie Messe gleichermaßen in einer Umbruchsphase stecken. Die thematische Überfülle der Messe spiegelt lediglich die damit verbundene Unsicherheit wider: Noch weiß niemand, wer die vor sich gehende Verschmelzung der Industrien für Telekommunikation, Medien, Computer und Unterhaltungselektronik in eine umfassende digitale Industrie überleben wird. „Die technologischen Barrieren bröckeln weg“, sagt Samsung-Vizepräsident David Steel. Die Konvergenz finde 2006 über alle Produktkategorien hinweg statt.
Die Kunden reagieren auf das unentschlossene Profil der Hightech-Messe zurückhaltend: Seit dem Boomjahr 2001 mit 850.000 Besuchern kommen deutlich weniger Menschen zur Cebit. In diesem Jahr sind die 6.200 Aussteller aus 70 Ländern froh, wenn eine halbe Million Besucher die Cebit besuchen, darunter allein 30.000 aus Asien.
Mit Sorge beobachten auch Branchenexperten wie Willi Berchtold die Entwicklung, der eine klare Abgrenzung der Cebit zu anderen Messen fordert. „Wir müssen den Trend zur Kannibalisierung zwischen IFA und Cebit stoppen“, sagt der Vizepräsident des IT-Verbands Bitkom. Nur so könne die Cebit ihren Charakter als Leitbild für die Hightech-Industrie behalten. TARIK AHMIA