: Das übliche Bild
Sie haben Dennies geliebt. Helfen konnten sie ihm nicht. Wie eine Familie versucht, mit dem Drogentod ihres Sohnes fertig zu werden
von Peter Brandhorst
Das letzte Mal war an einem Freitag nachmittag. Ein sonniger Herbsttag ist dieser 7. Oktober gewesen, erinnert sich die Mutter. Vorher noch die Begleitung zum Zahnarzt in Kiel. Dennies waren ja längst die Zähne ausgefallen, erzählt die 50-Jährige. Ihn, den Sohn, hat sie dann immer zur Behandlung gefahren, zwei Monate lang, hat ihn aus Rendsburg abgeholt und nach ein paar Tagen wieder dorthin zurückgebracht, wo er inzwischen seit fast zwei Jahren betreut wohnte.
„Lass mich bitte aussteigen“, hat Dennies an diesem Nachmittag plötzlich gesagt – noch ein letztes Mal wollte er durch das Zentrum seiner Heimatstadt Kiel laufen und dann mit dem Zug allein zurück nach Hause. Vielleicht noch mal alte Freunde treffen vor der bevorstehenden Therapie, um die er sich selbst bemüht hatte und mit der er so große Hoffnungen verband. „Das war auch unser letztes Mal“, sagt Anne Ohm-Titze.
Dennies Ohm, 28 Jahre, Alkohol ab 13, das erste Heroin mit 16, dazu regelmäßig Tabletten und Haschisch. „Alles, was zu bekommen war“, umreißt die Mutter diese Jahre. Den Zug zurück aus Kiel muss Dennies noch geschafft haben. Gestorben – an einer Überdosis des gerade auf dem Markt befindlichen besonders reinen Heroins und vermutlich bereits an jenem Freitag – ist er in seiner Rendsburger Wohnung. Die Polizei hat ihn dort aufgefunden, da schreibt man schon den 13. Oktober. Nachbarn hatten Leichengeruch wahrgenommen.
Anne Ohm-Titze will erzählen von zwölf langen Jahren im Zwiespalt zwischen Hoffen und Bangen. Will erzählen vom Sohn und dessen Anstrengungen, bloß noch zu überleben. Sie will ihre eigene Hilflosigkeit beschreiben und wie es ist, helfen gewollt und doch nicht gekonnt zu haben. Zusammen mit Bernd Titze, ihrem 49-jährigen Ehemann und Stiefvater von Dennies, sowie der 31-jährigen Tochter Nicole sitzt sie jetzt am Tisch. Eine Familie wie viele andere. Das Haus am Stadtrand, der Vater beruflich erfolgreich als Leiter eines Baumarkts, die Mutter etabliert mit eigenem Betrieb in der Gebäudereinigung, die Tochter arbeitet inzwischen als Rechtspflegerin an einem Gericht bei Hamburg. Mit am Tisch sitzt die Erinnerung an Dennies, an das Unfassbare, den Albtraum, den sie nicht begreifen.
Wenn die Mutter erzählt, dann kommen ihre Gedanken scheinbar ruhig daher, doch manchmal presst sie die Handflächen hart gegeneinander. Dann sucht sie nach einzelnen Worten und ganzen Sätzen, versucht vielleicht zum hundersten Mal mit dem inneren Auge zu scannen, was die Realität doch bereits so unwiderruflich beschrieben hat. Fantasie und Kraft, Liebe und Aufmerksamkeit der Angehörigen haben nicht ausgereicht, den Tod zu bezwingen. Man sieht ihn, den Tod, all die Jahre, lebt und kämpft fast eine halbe Ewigkeit gegen ihn an, und dann bekommt er auf einmal doch ein endgültiges Gesicht. Dennies.
„Als ich die Nachricht erfuhr“, sagt Anne Ohm-Titze nach einer Pause, „da war plötzlich die Angst weg.“ Erleichterung? Entsetzen? „Ich kann‘s noch nicht fassen, dass er nicht mehr da ist. Aber die ewige, mich auffressende Angst: ‚Wo ist er jetzt?‘, ‚Passiert ihm gerade etwas?‘, die ist jetzt weg.“
„Dennies war immer anders als andere, schon als Kind war er hyperaktiv“, sagt sein Ziehvater Bernd Titze. Er hatte ihn als Fünfjährigen kennen gelernt, nachdem zuvor die Beziehung zwischen Mutter und leiblichem Vater in die Brüche gegangen war. Ein Jahr brauchten beide, um ein inniges und vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen, „doch sein leiblicher Vater blieb lange die wichtigste Person für ihn“. Als pubertierender Jugendlicher ist er schließlich für zwei Jahre zu seinem leiblichen Vater gezogen. „Aber der konnte sich nicht so um ihn kümmern, wie Dennies das erhoffte und brauchte“, sagen Mutter und Stiefvater, „das war der Knackpunkt in seinem Leben. Damals ist er emotional ausgerutscht, weil Ziele und Träume nicht zu realisieren waren.“ Dennies hatte bereits zu trinken und zu kiffen begonnen.
Auch später ist er auf der Suche geblieben. Hat im Leben auf Ankerplätze gehofft und außerhalb der Familie doch nur „einseitige Freunde“ gefunden, wie es die Mutter beschreibt. Hat versucht, sich auch am Heroin festzuhalten und erst zu spät bemerkt, dass ihm die Drogen dabei mit ungefähr der gleichen Wahrscheinlichkeit behilflich sind, wie sich in einer Wüste Wasser finden lässt. Hat Ausbildungen begonnen und bald wieder abgebrochen, hat einmal eine Therapie begonnen und ist wieder rückfällig geworden.
„Unter dem Heroin hat er ganz doll gelitten und immer nach Hilfe geschrieen“, erinnert sich Schwester Nicole, „aber sein Willen aufzuhören war nicht stark genug.“ Ziehvater Bernd: „Ihm erging es so wie Leuten, die sagen: Morgen fange ich eine Diät an. Aber heute esse ich noch mal kräftig.“
„Allein schaff ich es nicht, ich krieg die Kurve nicht“, hat Dennies in den Monaten vor seinem Tod seinen Eltern geklagt und sich doch noch mal selbst einen Therapieplatz besorgt. Voller Pläne habe er gesteckt, erzählt die Mutter, er suchte weiter nach Nähe und Liebe und träumte von Frau und Kindern. Wollte irgendwann weit weg von der über Jahre vertrauten Szene leben, in Norwegen oder am Mittelmeer, Hauptsache woanders. Die Zukunft wollte er gestalten und war doch schon längst Gefangener seiner Vergangenheit. Noch eine allerletzte Begegnung mit dem Heroin an jenem Freitag, aber vielleicht hatte er es da auch schon aufgegeben, sich weiter gegen seine Drogenkrankheit zu wehren. „Er hat‘s einfach nicht geschafft“, sagt die Schwester, und die Tränen laufen ihr aus den Augen, „trotz all unserer Liebe im Rücken ist er gestorben. Mit seinem ersten Druck hat er sich damals sein eigenes Todesurteil geschrieben.“
Er war viel zu labil, sagt die Mutter, um über eine längere Zeit clean leben zu können, „wollte immer mit seinen Freunden mithalten und dazugehören“. Dennies Ohm gehörte zu den Suchtkranken, die nicht die Energie aufbringen konnten, sich dauerhaft in Entgiftung und Substitution zu retten.
Damals: Als 17-Jähriger hatte Dennies seinen Eltern gestanden, bereits seit einem Jahr regelmäßig Heroin zu drücken und auch andere Drogen zu nehmen. Er war längst dabei, ohne dies vielleicht schon selbst zu erkennen, sich aus der realen Welt zurückzuziehen und sein Leben bloß noch dem Zufall zu überlassen. Und auch für seine Familie begannen schwere Jahre. „Ihr müsst ihn fallen lassen, nur er selbst allein kann sich helfen“, wurde den Eltern von anderen Betroffenen in der Angehörigengruppe geraten. Doch wie den eigenen Sohn allein lassen, wenn er mal wieder mitten in der Nacht vor der Tür steht und nicht mehr weiter weiß? Wie reagieren, wenn die Polizei sie erneut mit Abstürzen und Straftaten konfrontiert? „Unser Leben“, sagt die Mutter, „war zum Schluss der einzige Ruhepol in seinem. Den konnten wir ihm doch nicht auch noch zerstören. Uns gegenüber war Dennies immer ehrlich und hat uns nie betrogen.“ Für sein Elternhaus besaß er einen Schlüssel, und als Vater und Mutter einmal in Urlaub waren, hat er bei ihnen eine Sammelbüchse geplündert. Und gleich eine Entschuldigung danebengelegt; die Münzen brauchte er für ein Zugticket zurück zu sich nach Hause.
„Ich hab ihn über alles geliebt“, sagt Nicole, die Schwester. Sie hat den Kontakt bereits 1998 weitgehend gekappt, „ich wünschte mir, das würde ihm helfen, sich zu befreien. Aber er konnte nicht.“ – „Vielleicht“, denkt die Mutter, „hätte ich eher einen Riegel vorschieben müssen. Aber dann wäre er wohl bloß früher gestorben.“ Nach einer Weile fügt gesteht sie, „furchtbar zornig“ zu sein, dass er „so“ gegangen ist. Aber sie ist auch froh darüber, bis zuletzt über ihre Gefühle gesprochen zu haben und darüber, dass jeder Abschied der letzte sein könnte.
Gedanken, die bloße Machtlosigkeit beschreiben. Und Gefühle für einen Menschen, der für sie all die Jahre immer Dennies geblieben ist, der Bruder und der Sohn. „Wir haben ihn nie verleugnet, keinen Hehl aus unser aller Situation gemacht“, sagt der Vater. „Dennies war drogenkrank, aber er hatte das Recht, so behandelt zu werden wie jeder andere Mensch auch.“
Wie man den Sohn denn vorgefunden habe, damals im Oktober nach seiner letzten Begegnung mit dem Heroin, wollten die Eltern von der Kripo wissen. Als Antwort, sagt der Vater, kam eine „Riesenschweinerei“, nur ein Satz: „Na, wie schon. Halt das übliche Bild.“