Der bekleckerte Klotz

Heute vor 70 Jahren wurde das 76er Denkmal eingeweiht. Der Quader ist Anlaufpunkt für Veteranen, Rechtsradikale, Antifaschisten und Pazifisten

Die Gegner bemühten sich fantasievoll um die Dekonstruktion des Denkmals

von GERNOT KNÖDLER

Manch einen Hamburger wird es schon gegruselt haben, als er im Frühjahr 1936 am frisch eingeweihten Kriegerdenkmal am Dammtor vorbeispaziert ist. „Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen“, hatte der Bildhauer Richard Kuöhl in die Muschelkalk-Verkleidung des riesigen Quaders gemeißelt. Dabei waren sie erst vor 20 Jahren massenhaft gestorben: Von den rund 3.000 Soldaten des hanseatischen Infanterie-Regiments 76, die im August 1914 in den Ersten Weltkrieg gezogen waren, kamen nur 647 zurück. Das Denkmal drohte unverhohlen mit einer Neuauflage des Krieges und tut es noch.

Als gigantischer Stein des Anstoßes ist es in den vergangenen Jahrzehnten vielfach zum Schauplatz politischer Demonstrationen geworden. Immer wieder ist es mit Farbbeuteln beworfen und besprüht worden – von links wie von rechts, mal aus Ekel, mal aus Begeisterung. Am Volkstrauertag lauschten noch im vergangenen November Kriegsveteranen und Hinterbliebene hier den Klängen von „Ich hatte einen Kameraden“. 2001 marschierten 100 Neonazis auf und legten unter Polizeischutz Kränze nieder. 250 Gegendemonstranten mussten zusehen.

1999 startete hier eine große Demonstration gegen die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato. Zuvor hatten Kriegsgegner die steinernen Truppen mit zeitgemäß leuchtenden Farben eingekleidet. Eine Gruppe von Kriegsgegnern bemühte sich fantasievoll um die Dekonstruktion des Denkmals: Nachdem sie die Polizei mit dem Gerücht alarmiert hatte, der Kriegsklotz solle „gesprengt“ werden, rückte sie mit mit Gießkannen an.

Alle Anläufe, den „Kriegsklotz“ abreißen zu lassen oder wenigstens die Inschrift zu entfernen, scheiterten. Stattdessen veranstaltete die Kulturbehörde 1979 einen Ideenwettbewerb, wie mit dem Denkmal umgegangen werden könne. Keiner der mehr als 100 Vorschläge überzeugte die Jury. Die städtische Kunstkommission empfahl deshalb 1982, den Bildhauer Alfred Hrdlicka, ein Mitglied der Jury, mit einem Gegendenkmal zu beauftragen.

Dabei war der Kriegsklotz selbst das Gegenstück einer ganz unmartialischen Erinnerung an die Verluste des Ersten Weltkrieges. Schon 1932 hatte die Stadt an der Rathausschleuse eine Stele mit dem Relief einer trauernden Mutter von Ernst Barlach errichten lassen. „40.000 Söhne der Stadt ließen ihr Leben für Euch“ steht darauf schlicht.

Hrdlicka plante ein offenes Ensemble, dessen vier Teile ein zerbrochenes Hakenkreuz bilden sollten. Die erste Plastik, „Hamburger Feuersturm“ stellte der Bildhauer am 8. Mai 1985 der Öffentlichkeit vor. Der „Untergang von KZ-Häftlingen“ folgte im Jahr darauf. Dann stritten sich Künstler und Senat über die Finanzierung der übrigen Komponenten zu den Themen „Soldatentod“ und „Frauenschicksal“. Hrdlicka zog sich zurück. Es blieb bei einem Torso neben dem Klotz, auch wenn das dem unbedarften Flaneur nicht auffällt.

Dem geschlossenen Block gleichgeschalteter Individuen habe Hrdlicka eine offene Form entgegengesetzt, schrieb der Kunsthistoriker Volker Plagemann 1989. „So wie das 76er Denkmal die latente Lust zur Entindividualisierung im Marschtritt wecken sollte, so wird in den Schilderungen Hrdlickas Angst, Schmerz und Tod des Einzelnen nachvollziehbar“, fand der ehemalige Senatsdirektor.

Ob die Kolonnen beim Großteil der heutigen Hamburger die Lust zur Entindividualisierung zu wecken vermögen, ist zweifelhaft. Zu offensichtlich ist, dass sich die Inschrift nach dem Gedicht „Soldatenabschied“ von Heinrich Lersch als Programm erwiesen hat: Rund 6.000 Soldaten des Regiments sind im Zweiten Weltkrieg gefallen.