: Die Existenzialisten zum Beispiel
VERFÜHRUNG Über die Macht der Bücher, das Gerede der Welt und die Anfälligkeit für Ideologien: Norbert Gstreins brillanter Heimatroman „Eine Ahnung vom Anfang“
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Im Zentrum, wenn es ein solches überhaupt gibt, von Norbert Gstreins neuem Roman steht das Bild einer Idylle: ein einsam gelegenes Haus an einem Fluss; ein Mann und zwei Jungen, die sich dort in aller Unschuld und aller Seinsvergessenheit aufhalten, auf den Steinen am Wasser liegen, baden, angeln, reden. „Wir haben zusammen Zeit verbracht“, heißt es einmal, als danach gefragt wird, was dort geschehen sei. Doch Norbert Gstrein ist kein Idylliker und auch nur auf den ersten oberflächlichen Blick ein realistischer Erzähler. Jener Sommer am Fluss wird in „Eine Ahnung vom Anfang“ hin und her gewendet aufgelöst, zerschreddert im Gerede, in Mutmaßungen und Verdachtsmomenten.
Gstrein ist ein Autor der Möglichkeitserkundungen. Das gilt auf der Handlungsebene für seine Figuren, die selbst permanent die Zuverlässigkeit der eigenen Wahrnehmungen infrage stellen. Das gilt aber auch auf der technischen Ebene für die Konstruktion seiner Bücher, die, getragen von einer sogartigen Sprache, in Wahrheit verschlungene fiktionale Konstrukte sind.
Hang zum Größenwahn
Die Handlung des Romans lässt sich tatsächlich in einigen Sätzen zusammenfassen: Der Ich-Erzähler, wir erfahren nur seinen Vornamen, Anton heißt er, ist Lehrer an einem Kleinstadtgymnasium in Österreich. Auf einem Foto in einer Tageszeitung glaubt er, Daniel wiederzuerkennen, seinen ehemaligen Lieblingsschüler und Protegé. Gemeinsam mit ihm und dessen Freund Christoph hat er zehn Jahre zuvor den Sommer in jenem Haus am Fluss verbracht. Daniel war ein Sonderling, Leser und Schreiber, intelligent, anfällig für das Radikale (aber da ist man schon beim Geraune), mit einem Hang zum Größenwahn. Dass bislang alle Menschen irgendwann gestorben seien, so wird er zitiert, sei noch lange kein Beweis, dass er, Daniel, auch eines Tages sterben müsse.
Das höchst undeutliche Tageszeitungsfoto zeigt einen Mann, der verdächtigt wird, auf einem Bahnhof eine (allerdings in diesem Zustand nicht funktionsfähige) bombenähnliche Konstruktion platziert zu haben. Dieser Verdacht ist der Ausgangspunkt von Antons Erinnerungen, deren Niederschrift der Roman ist, den wir in der Hand halten; eine „Sprachübung in Erinnerung“. Die in den Text eingewobenen Denk- und Diskurslinien sind vielgestaltig und, das ist die große Kunst, auf bestechende Weise miteinander verknüpft.
Zunächst einmal ist „Eine Ahnung vom Anfang“ ein Heimatroman, der dezidiert kein Antiheimatroman im Sinne einer Abrechnung oder Bernhard’schen Beschimpfungslust ist. Die Stadt, in der Anton unterrichtet (die gesamte Topografie hat eine kaum zu leugnende Ähnlichkeit mit Gstreins eigener Herkunftsregion in Tirol), ist in einem Mischzustand zwischen Autobahnfortschritt und Ministrantenpflicht. Die Religion, der Katholizismus, die Normen und die Ausbruchsversuche finden ihren Niederschlag unter anderem in der Lebens- und Familiengeschichte des Erzählers:
Er selbst ist einige Jahre zuvor für zwei Jahre ins Exil gegangen, nach Istanbul, um an einer deutschen Schule zu unterrichten. Der Onkel ist vor langer Zeit ins Wasser gegangen. Und Robert, der Bruder des Erzählers, hat sich am Fluss umgebracht. Darüber reden die Leute. Der Selbstmord des Bruders führt an eines der wichtigsten Motive des Romans heran, an die Frage nämlich, inwieweit die Literatur in ein Leben eingreifen kann, inwieweit Bücher einen Menschen prägen oder ihm gar gefährlich werden können. Denn Anton, der Lehrer, gibt seinem Schüler Daniel eben jene Bücher zu lesen, die auch Robert gelesen hat und die ihn, so jedenfalls eine Vermutung, in den Selbstmord getrieben haben könnten. Die Existenzialisten zum Beispiel.
Das ist das Zeitgemäße an Gstreins Roman: Alles, was nonkonform wird, wird von der Umwelt misstrauisch beäugt. Was hier geschieht, ist im Grunde genommen Weltgeschichte im Kleinen. Eine sich in welcher Form auch immer radikalisierende Geisteshaltung erzeugt umgehend ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, selbst wenn die Bedrohung diffus und unausgesprochen bleibt oder möglicherweise gar nicht existiert. Dass Norbert Gstrein ein ausgezeichneter Schriftsteller ist, stand nie infrage. Dass sein neuer Roman womöglich der beste ist, den er je geschrieben hat, hat einen Grund: Gstrein verzichtet auf jegliche Muskelspiele. Eine gewisse Machoattitüde, die (auch in der Stoffwahl) beispielsweise einem Roman wie „Die Winter im Süden“ zueigen war, geht diesem Buch, das auch eine Elegie auf das Vergehen der Zeit, ein Trauergesang um die eigene Vergänglichkeit ist, vollkommen ab.
In der Rückkehr zur eigenen Herkunft und im Vertrauen auf die Kraft seiner weitschweifenden, in hohem Maße eleganten Satzbögen, die in Kongruenz zum Bewusstseinszustand des Erzählers stehen, ist Gstrein ein großer Roman über geistige Verführung, Ideologieanfälligkeit und die Brüchigkeit von Erinnerungen gelungen.
■ Norbert Gstrein: „Eine Ahnung vom Anfang“. Carl Hanser Verlag, München 2013. 352 Seiten, 21,90 Euro