: Die Ohren bleiben dran
Der diesjährige Japan-Schwerpunkt der MaerzMusik weitet den transkulturellen Horizont in Richtung Pop- und Genderthemen und verabschiedet sich vom erhabenen Handschlag zwischen Hochkulturen
VON BJÖRN GOTTSTEIN
Wer nach dem Unterschied zwischen amerikanischem und japanischem Design sucht, dem sei ein schon fast kanonischer Witz über die Entwicklung eines künstlichen Gehirns ans Herz gelegt. Im amerikanischen Elektrogehirn wimmelt es von Drähten, Chips und blinkenden Lämpchen. Der japanische Kopf hingegen enthält nur einen einzigen Chip und einen schlanken, von links nach rechts gespannten Draht. Dieser Witz im Witz bringt die zur Binsenweisheit gereiften Differenzen zwischen den beiden Kulturen auf den Punkt: Geschwätzigkeit, Überfluss und Entropie hier, Ruhe, Askese und Konzentration dort.
In der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts wurden diese Klischees aufs Fruchtbarste gelebt, ausgezehrt und schließlich in Beton gegossen. Seit John Cage den Ideenhorizont japanischer Philosophien – die Nichtkausalität der Zusammenhänge und die Nichtteleologie der Zeit – in den Vierzigerjahren auf die westliche Musik applizierte, hat das östliche Denken wesentlich zum Selbstverständnis der Avantgarden beigetragen. Sei es, dass Cage die gelassene Strenge eines Steingartens in Noten setzte, sei es, dass Hans Zender die Leere eines kreisförmigen Schriftzeichens zum Gegenstand seines „Loshu“-Zyklus erhob. Komponisten verfielen bei Lehrsätzen wie „Wenn ihr keinen Krückstock habt, nehme ich ihn euch weg“ in meditative Ratlosigkeit und begannen unter dem Eindruck von zenbuddhistischen Paradoxien zu komponieren. Gleichzeitig ereilte zahlreiche japanische Komponisten, die in ihrem Land musikalisch ausschließlich westlich sozialisiert worden waren, der Schock der Entwurzelung. Das führte oft zu einer Rückbesinnung auf die traditionelle Musik Japans – in den Sechzigerjahren erstmals und paradigmatisch bei Toru Takemitsu, in den Achtzigerjahren nochmals beispielhaft bei Toshio Hosokawa. Die Stille und die Klangmeditation, der verhauchte Flötenton der Shakuhachi und der verwehte Zupfklang der Koto haben sich seither als Prototypen in der Neuen Musik etabliert.
Wenn die MaerzMusik sich in diesem Jahr den Schwerpunkten „Interkultur“ und „Japan und der Westen“ widmet, dann droht ein wenig die Gefahr, dass diese Geschichte wieder und wieder erzählt wird. Und tatsächlich ziehen sich Werke von Cage, Zender, Takemitsu und Hosokawa durch das gesamte Festivalprogramm. Akio Suzuki hat eine mit Steinen klackernde Klanginstallation realisiert. Und Rolf Julius stellt seine von japanischer Reduktion geprägten musikalischen Grafiken aus. Dass dies alles hörenswert ist, steht außer Zweifel. Aber darüber hinaus hat die MaerzMusik Umsicht und Geschick bewiesen, da sie sich in diesem Jahr auch den Nebenwegen und dem Mainstream der japanischen Musikkultur geöffnet hat. Der Jazz- und Noisemusiker Otomo Yoshihide zum Beispiel widmet sich mit seinem Orchestra japanischen TV-Melodien; Ryoji Ikeda verwebt gemeinsam mit Carsten Nicolai das Rauschen der Kanäle und die Sterilität von Testtönen zu einem verstörenden Gegenbild der technifizierten Moderne; Saki und Terre Thaemlitz wiederum, zwei Ikonen des japanischen Queer-Pops, bringen kulturelle und geschlechtliche Differenzen in ihrem Hörspiel „trans-sister radio“ zur Deckung.
Spätestens seit den Achtzigerjahren gilt Japan als nationalisierte Postmoderne, als Land, in dem alles vom Kaugummi-Pop bis zum Noise-Terror nicht nur denkbar, sondern auch legitim ist. Man mag diesen Verlust ästhetischer Verbindlichkeiten bedauern. Tatsächlich aber war das westliche Japan-Bild lange vom hegemonialen Dünkel der Hochkultur geprägt. Vor allem die Musikethnologie glaubte im fernen Osten ein Paralleluniversum erkennen zu können, dessen komplexe soziale Mechanismen und raffinierte kulturelle Zeichensysteme sich auf die vermeintlichen Errungenschaften der europäischen „Zivilisation“ projizieren ließen. Indem die MaerzMusik die tradierte Kultur Japans gleichberechtigt neben Godzilla-Soundtrack und Transgender-Problematiken stellt, entzieht sie dieser Hybris ihre Grundlage.
Bis zu einem gewissen Grade ist das Verhältnis zwischen Japan und dem Westen immer eines der gegenseitigen Projektionen gewesen. Makiko Nishikaze zum Beispiel erklärt, sie habe sich in ihrem Musiktheater „M. M.“ (Uraufführung 24. 3.) vor allem deshalb für die Gestalt der Maria Magdalena entschieden, weil sie der sachliche Stil des Johannes-Evangeliums und die antike Rolle der Frau fasziniert habe. Der ungarische Komponist Peter Eötvös wiederum macht ganz ähnliche Gründe geltend, die ihn dazu brachten, in seinem Klangtheater „As I Crossed a Bridge of Dreams“ (Premiere 17. 3.) die Tagebücher einer japanischen Hofdame aus dem 11. Jahrhundert zu vertonen. Man schweift halt lieber in die Ferne. Schließlich ist ja auch die Suche selbst der eigentliche Zweck des transkulturellen Transfers. Oder um es mit einer fernöstlichen Weisheit zu sagen: Der Weg ist das Ziel.
Geglückt ist das Programm der MaerzMusik in diesem Jahr also auch deshalb, weil es zeigt, wie die japanische Kultur fast alle Bereiche des Musiklebens durchdrungen hat – eben weil sie alle Facetten zwischen ambitionierter E-Musik, Pop und Jazz locker abdeckt.
Die noch fehlende Pointe des eingangs erwähnten Witzes ist also ein bisschen schief: Im Wettstreit um das künstliche Gehirn wird schließlich ein dritter Kunstkopf, der nur noch einen einzigen Draht enthält, auf seine Funktionalität hin getestet – der Draht wird gekappt. Und prompt fallen dem Kopf die Ohren ab. Dazu aber wird die MaerzMusik mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Anlass liefern.
MaerzMusik bis 26. 3. an unterschiedlichen Orten; vollständiges Programm unter www.maerzmusik.de