: Warum denn tragisch?
LITERATUR Auch Väter sind nur Kinder ihrer Zeit: Ein Spaziergang mit der Schriftstellerin Alissa Walser
■ Alissa Walsers neuer Roman heißt „Am Anfang war die Nacht Musik“ (Piper Verlag, 252 Seiten, 19,95 Euro). Über den „Magnetiseur“ Franz Anton Mesmer schrieb bereits Stefan Zweig 1931 ein Buch: „Die Heilung durch den Geist“.
■ Wiebke Porombka geht gelegentlich für die taz spazieren. Zuletzt mit den Autoren Lutz Seiler (30. 11. 2009) und Benjamin von Stuckrad-Barre (21./21. 2. 2010) um den Berliner Schlachtensee.
VON WIEBKE POROMBKA
Jeder Laut, den wir von uns geben, ist ein Stückchen Autobiografie.“ Diesen Satz hat Alissa Walser ihrem Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“ vorangestellt. Er stammt von der kanadischen Dichterin Anne Carson, die Walser vor fast zehn Jahren erstmals ins Deutsche übersetzt hat. Er wirkt wie ein Schlüssel nicht nur zu Walsers Roman, sondern auch zu ihr selbst. Obwohl sie konzentriert und entschieden spricht, hat ihre Stimme etwas Sanftes, fast Zerbrechliches. Manchmal droht sie unterzugehen in den Kinderstimmen, die vor den Käfigen mit den Leoparden oder dem Seehundbecken herjuchzen.
Schwer zu entscheiden, ob Alissa Walser das nicht bemerkt oder ob sie sich entschlossen hat, sich von dem Treiben nicht aus dem Rhythmus bringen zu lassen. Dass schon das zweite Mal eine fidele Zooangestellte anbietet, ein Erinnerungsfoto zu machen, entlockt Walser weder Lächeln noch Kopfschütteln.
Vehement wird die 1961 am Bodensee geborene und in Frankfurt lebende Walser erst, wenn man etwas Kritisches über ihre Romanfiguren sagt, aber selbst diese Vehemenz hat etwas Sanftes. „Der Vater wolle doch nur das Beste für seine Tochter“, sagt sie und bleibt stehen. Er sei ein Kind seiner Zeit. Walser spricht vom Vater von Maria Theresia Paradis, einer historischen Figur, um deren Schicksal der Roman kreist. Paradis war eine als Wunderkind gefeierte und mit drei Jahren erblindete Pianistin – eine der schillerndsten und tragischsten Patientinnen des im späten 18. Jahrhundert kaum weniger schillernden und kaum weniger tragischen Wiener Arztes Franz Anton Mesmer.
Das Wort „tragisch“ mag Alissa Walser gar nicht. „Warum denn tragisch?“, fragt sie ein ums andere Mal und scheint das wirklich nicht zu verstehen. Mesmer, überzeugt von den Heilungserfolgen des Magnetismus, erreichte, dass Paradis zeitweise wieder sehen konnte. So jedenfalls erzählt Walser die Geschichte. Als dem Mädchen daraufhin Fehler beim Klavierspiel unterlaufen, beendet der Vater die Behandlung, ohne ein Ohr für die Bitten seiner Tochter zu haben. Lieber eine blinde Tochter als eine erfolglose.
Angesichts einer derart übermächtigen Vaterfigur kann man kaum anders als an Walsers eigenen familiären Hintergrund denken. Alissa Walser ist eine der vier Töchter von Martin Walser. Wenn man sie nach ihrem Vater fragt, reagiert sie nicht unfreundlich, eher mit Verständnis, als habe sie sowohl das Los akzeptiert, Tochter eines der berühmtesten deutschsprachigen Schriftsteller zu sein, wie auch die Unvermeidlichkeit, immer darauf angesprochen zu werden.
Anlässlich des Erscheinens seines neuen Tagebuch-Bandes sagte Vater Walser unlängst im Spiegel, seine Töchter würden ihm selbstverständlich alles zu lesen geben, bevor es nach außen gelange. Seine Töchter erzählen über die Beziehung zu ihrem Vater ein wenig anders. Gleichwohl kann man es sich nicht anders als kraftaufwendig vorstellen, das Gleichgewicht in diesem Verhältnis zu bewahren.
Mit sechzehn zog Alissa Walser aus ihrem Elternhaus am Bodensee aus, mit zwanzig ging sie nach Wien, um Malerei zu studieren, später nach New York. Dass sie nun ihren ersten Roman veröffentlicht hat, nachdem man sie 1992 erstmals als Autorin wahrnahm, als sie den Bachmannpreis gewann, erscheint von außen wie eine folgerichtige Entwicklung. Ganz so reibungslos, wie es sich erzählen lässt, habe sie das natürlich nicht erlebt, sagt Walser, bevor sie erklärt, wie sie vom Malen großformatiger, materialreicher, zumeist figurloser Bilder zum Schreiben gekommen ist. Nach ihrer Rückkehr aus New York habe sie das Material zunehmend als Belastung empfunden. Walser lächelt und scheint dennoch gern zu erzählen, wie sie ihre Ölfarben selbst hergestellt hat, und deutet zähe Rührbewegungen mit einem imaginären Stock an.
Je mehr sie ihr Material reduziert habe, desto figürlicher seien die Bilder geworden. Auf die Ölmalerei sei Aquarell gefolgt. Am Ende habe sie mit Filzstiften gearbeitet. „Einen einfachen Block und einen Edding 1300, das kriegen Sie an jeder Ecke.“ Während sie mit ihren frühen Arbeiten bewusst keine Geschichten erzählen wollte und ihr stattdessen das Räumliche wesentlich war, hat sie sich über das Zeichnen mehr und mehr dem Erzählen genähert. „Irgendwann habe ich dann gedacht, dass ich das, was ich zeichne, auch aufschreiben kann.“
In ihren Erzählungsbänden gibt es noch Zeichnungen, die mit dem Text in Wechselwirkung stehen. Auch die Zeichnungen in einem Gedichtband ihres Vaters, „Das geschundene Tier“, stammen von ihr. Bei ihrem neuen Roman ist es nur noch das Motiv auf dem Umschlag: ein Aquarell einer Glasharmonika, des Instruments, über dessen Musik Mesmer seine Beziehung zu seiner Patientin Paradis noch enger knüpfen konnte.
„Haben Sie mal eine Glasharmonika gehört?“, fragt Walser. Ein wenig sphärisch sei ihr Klang, erinnere an eine singende Säge. Das klingt nun eher nach Gänsehaut. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass aus dem Affenhaus plötzlich lang anhaltendes Kreischen kommt. Irgendwie menschlich höre sich das an, sagt Walser. In jedem Fall grauenhaft. An Carsons Satz von den Lauten und der Autobiografie denkt man in diesem Moment lieber nicht.
„Ganz einfach“, sagt sie
Obwohl es einer der ersten laueren Tage dieses Jahres ist, verdüstert sich der Himmel immer wieder, und man muss ständig den unzähligen Pfützen auf den Wegen ausweichen. Auch wenn es vielleicht nicht so aussehe, sagt Alissa Walser, es sei viel von der Malerei in ihren Büchern geblieben. Was sie interessiere, sei das Dazwischen. Die Beziehung zwischen zwei Figuren, ihr Verhältnis, das immer etwas Drittes ergebe, das Walser selbst wiederum als eine Figur denkt. Später, im spärlich besuchten und aus unerfindlichen Gründen auf Hazienda getrimmten Zoorestaurant, fragt sie nach Stift und Papier. „Ganz einfach“, sagt sie, dreht das Blatt herum und schraffiert den Raum zwischen den beiden Gesichtsprofilen, die sie gezeichnet hat, so dass man auf einmal eine Vase sieht.
ALISSA WALSER
Das Spannende sei der Moment, wo die eigene Wahrnehmung kippt und sich das Bild verschiebt. Das gelte nicht nur für diese kleine Zeichnung, sondern generell für ihre Figuren.
Wenn sie über bildende Kunst erzählt, wirkt Walser gelöst. Ein Projekt gab es, für das sie Handtaschen und deren Inhalte gezeichnet hat, auf zwei dünnen, übereinanderliegenden Blättern. Daneben hat sie Zitate aus Tierdokumentationen montiert. „In der zentralasiatischen Steppe sitzt ein kleines Tier vor seiner Höhle und wartet auf einen Geschlechtspartner“, zitiert sie und lacht. Der Zoo als Treffpunkt ist also gar nicht so weit hergeholt.
Solcherart Spielerisches wie in dem zoologischen Handtaschenprojekt vermisst man in dem Roman, hört man sich sagen; zu streng, fast klassisch sei die Sprache. Gerade dass sie so melodiös sei, verleihe ihr eine Undurchlässigkeit, eine Bruchlosigkeit.
Alissa Walser denkt einen Moment nach.
Dann sagt sie: Das Spielerische des Romans liege für sie in den bekannten Regeln, die allen Figuren eingefleischt seien, auf deren Basis aber eine Möglichkeitsform des Erzählens entstehe. Darin, dass man nicht wirklich wisse, was es mit diesem Magnetismus auf sich habe. In ihrem Zettelkasten habe sie Mesmer als Magier verzeichnet. Vielleicht habe er aber auch einfach die Fähigkeit gehabt, anderen Menschen bei dem zuzuhören, was sie von sich gaben.