KUNSTRAUB : The Detroit Version
VON OPHELIA ABELER
Das Bild „Der Traum der Menschheit“ von Tintoretto ist riesig. Man muss den Kopf schon in den Nacken legen, um es richtig zu sehen, denn es hängt unter der Decke. Und zwar der des Detroit Institute of Arts. Das DIA ist ein prachtvoller Belle-Époque-Bau, der die ebenso prachtvolle Kunstsammlung der Stadt beherbergt. Das Bild da oben zu befestigen war ein Kraftakt, sowohl technisch als auch finanziell. 2007 war das erst. Nun ist Detroit pleite, und alle diskutieren darüber, ob der Tintoretto (geschätzte 100 Millionen wert) jetzt verkauft werden muss und mit ihm weitere 37 Kunstwerke, die zusammen angeblich etwa 2,5 Milliarden Dollar einbringen könnten.
1923 hat das DIA das Mitte des 16. Jahrhunderts für die Schlafzimmerdecke eines venezianischen Kaufmanns gefertigte Werk aus Mitteln der Stadt erworben, und genau das bringt das Werk jetzt in Gefahr.
Wäre es eine Leihgabe oder eine Schenkung mit den üblichen daran hängenden vertraglichen Verpflichtungen, würde das scharfe Auge des städtischen Konkursverwalters Kevyn D. Orr darüber hinwegschweifen. Falls er sich ins Museum bequemte. Tatsächlich nimmt ihm diesen Gang eine 20-köpfige Mannschaft vom Auktionshaus Christie’s ab, die gegen ein Honorar von 200.000 Dollar den Wert der Sammlung schätzt – so viel Geld ist dann doch noch da.
Eventuell sogar noch mehr: 283 Millionen Dollar aus öffentlicher Hand sollen, Bankrott hin oder her, dem Bau eines neuen Stadions für die Red Wings, der Eishockeymannschaft Detroits, zugeschossen werden. Der Stadionneubau soll zum Wiedererstarken der Stadt beitragen. Die Red Wings gehören Mike Ilitch, einem Pizzamilliardär, dem auch das Baseballteam, die Detroit Tigers, gehören. Während der Krise Detroits zur Jahrtausendwende wurde den Tigers mit der gleichen Begründung ein neues Stadion hingestellt.
Das hat schon 2000 in absehbarer Weise nichts gebracht – kein Wunder, wenn man sich weitere Zahlen der letzten Jahre anschaut: Die frühere 1,5-Millionen-Einwohner-Metropole ist inzwischen zu einer Stadt von 700.000 Einwohnern geschrumpft, von denen 82 Prozent schwarz und 50 Prozent arbeitslos sind. Nach einem Notruf wartet man 58 Minuten auf den Krankenwagen oder die Polizei. Die Hälfte der Ambulanzen und Polizeiautos ist kaputt. Die restlichen Wagen haben im Schnitt 480.000 Kilometer auf dem Tacho. Da ist niemand mehr übrig, der sich Hockey- oder Baseballtickets leisten kann.
Der Eintritt fürs DIA hingegen beträgt nur 8 Dollar, das Museum ist gut besucht, bietet Kinderbetreuung und Bildungsprogramme an und hat in den letzten Jahren ein erfolgreiches Fundraising (400 Millionen Dollar) betrieben. Dass die Bewohner Detroits die Kunstsammlung demnach als ihren Schatz ansehen könnten, verhindert nicht, dass Kunst nach wie vor für elitär und tendenziell undemokratisch gehalten wird.
Das Museum soll Opfer bringen
Daher meinen viele Pressestimmen, insbesondere konservative Finanzblätter wie Forbes oder das Wallstreet Journal, das Museum, seine Mitarbeiter und seine angeblich reichen und realitätsfernen Befürworter müssten Opfer bringen – als wären sie für die Misere verantwortlich. Diese Haltung schlägt durch.
In Leserbriefen wird mit der Frage „Wie viele Leben ist ein Rembrandt wert?“ diskutiert, was Zivilisation und Kultur ausmache und ob diese zulasten der Pensionäre der Stadt gehen dürfen, deren Renten massiv durch den Entschuldungsplan gefährdet sind. Dabei wird erstaunlich viel Handlungsbedarf auf das Museum projiziert, während niemand Geld vom Pizzamilliardär haben will. Dabei könnte der zum Beispiel locker den Tintoretto kaufen und gleich mal zurückschenken.
Der bizarrste Teil vom Plan des Konkursverwalters Orr, wie von den 18 Milliarden Miesen runterzukommen sei, war die Idee einer Bustour für die größten Gläubiger; schön durch die übelsten Stadtviertel, wo nur noch eine Laterne alle fünf Häuserblocks leuchtet, wo ausgebrannte Feuerwachen stehen, wo jedes dritte Haus verlassen und vernagelt dasteht. Dass da kein Geld zu holen ist, wollte Orr den Gläubigern zeigen und sie bewegen, ihre Ansprüche fallen zu lassen. Die meisten wollten laut Zeitungsberichten nicht mitkommen, weil sie zuvor eine Einverständniserklärung hätten unterschreiben müssen, Inhalt in etwa: „Ich trage hier das alleinige Risiko für alles, was mir zustoßen kann.“ Sie wollen ja schon das Risiko ihrer Spekulationen nicht tragen.
■ Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York