: „Moers hat die Pole-Position“
INTERVIEW: LUTZ DEBUS UND HOLGER PAULER
taz: Herr Michalke, Sie sagen, dass der Jazz in den 70er Jahren aufgehört hat, stilbildend zu sein, warum werden Sie nun Leiter eines der bedeutendsten Jazzfestivals Europas?
Reiner Michalke: Ich habe mit dem Jazzbegriff ein Problem. Es gibt kein neues Wort für das, was nach den 70ern entstanden ist. Wir haben versucht, es mit „Aktueller Musik“ zu umschreiben. Ich will damit sagen, dass der Jazz nicht mehr Quelle der Inspiration für andere Künste ist. Bis in die Siebziger hinein haben sich Leute aus dem Rock ‘n‘ Roll und dem Pop viele Anregungen aus dem Jazz geholt. Jetzt erlebe ich das Umgekehrte und das möchte ich auch in Moers zeigen.
Bildet das Festival lediglich Musik ab oder schafft es auch, neue Impulse zu geben?
Wir versuchen, wie in einem Fenster den Ist-Zustand abzubilden. Was ist los im Juni 2006? Es ist der Versuch einer Momentaufnahme der aktuellen Improvisierten Musik. Im Idealfall entsteht daraus ein Treffpunkt für ZuhörerInnen und MusikerInnen, die zu einem gleichen Zeitpunkt gleiche Interessen haben und gleiche Ziele verfolgen. Dann kann daraus ein Ort werden, wo Dinge passieren, die sonst nicht passiert wären. So ein Ort war Moers bis weit in die achtziger Jahre hinein.
Moers hat sich verändert.
Ja, aber das hat nichts mit Moers zu tun. Die Musiker haben sich auch verändert. Es gibt einfach Zyklen in der Kunst, die man nur rückwirkend bewerten kann. Ist das, was ich jetzt tue, wichtig für andere? Wird das nachhaltig sein? Wird das jemanden in seinem Schaffen beeinflussen? Moers war in Europa lange der Ort, an dem sich viel gebündelt hat.
In den 90ern gab es dann ja auch zunehmend den Eventcharakter. Zum Beispiel den Versuch, eine Jazzcombo in Heißluftballons auftreten zu lassen.
Moers war schon mit der Lage im Freizeitpark mit dem großen Zirkuszelt immer nahe am Spektakel. Und das hat auch seine Berechtigung. Da ich meinen Vorgänger Burkhard Hennen sehr schätze, würde ich nie sagen, dass er da die Grenze nicht eingehalten hätte. Festival ist Event. Solange die Musik dabei nicht zu kurz kommt, ist das okay.
Das Publikum im Zelt und die Punks auf der Wiese haben aber unterschiedliche Interessen.
Das waren ja nicht nur Punks. Das ist ja ne bunte vielschichtige Ansammlung, die sich draußen da trifft. Das ist ein Phänomen in Moers. Es gibt ein Moers-Publikum, dass die Konzerte besucht und ein anderes Publikum, das die Gelegenheit nutzt, vier Tage kostenlos zu zelten und eine gute Zeit zu haben.
Gibt es eine Möglichkeit, sie alle unter einen Hut zu bringen?
Es gibt einige Maßnahmen, das Programm im Festivalzelt auch für die Camper interessant zu machen. Ich habe ja schon angedeutet, dass im Programm auch eine ganz junge Generation mit ganz anderen musikalischen Idealen vertreten ist. Zusätzlich übertragen wir alles aus dem Zelt nach draußen. Über einen kleinen UKW-Sender für das Stadtgebiet kann dann jeder, der möchte, das Programm kostenlos im Radio hören.
Wie sieht die Akzeptanz beim Moerser Spießbürger aus?
Das Festival hat einen hohen Stellenwert für den Moerser. 20 Kilometer außerhalb wird Moers mit diesem Festival in Verbindung gebracht. Viele Moerser, wollen nicht nur, dass das Festival fortgesetzt wird, sondern dass es wieder diese internationale Spitzenposition einnimmt, die es mal hatte.
Ist deswegen der WDR auch wieder eingestiegen?
Der WDR ist bei diesem Festival kein Partner sondern lediglich ein Medienunternehmen, das über das Festival berichtet. Es gibt keinen Geldtransfer zwischen dem WDR und der Stadt.
Eine Partnerschaft ist völlig ausgeschlossen?
Nein. Der WDR ist vor drei oder vier Jahren ausgestiegen und ich hätte auch ein komisches Gefühl gehabt, wenn der WDR jetzt wieder eingestiegen wäre, nur weil Burkhard Hennen das Festival nicht mehr macht. Mir ist viel lieber, der WDR guckt sich an, was ich mache und entscheidet dann.
Aber es ist doch wichtig, dass nun wieder Sachen aus Moers in die Welt gesendet werden.
Wir haben mit diesem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine wunderbare Errungenschaft in der Bundesrepublik. Vor allem im Hörfunk, wo die Qualität der entscheidende Faktor ist und nicht die Massenkompatibilität. Hier treffen sich die Ambitionen. Moers wäre schlecht beraten, nicht die Partnerschaft mit dem WDR zu suchen. Norbert Ballhaus (SPD), der Moerser Bürgermeister, hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Der Sender und das Festival.“ Das Fernsehen wird auch einen 90-minütigen Beitrag drehen.
Peter Brötzmann, ein Moers-Gast der ersten Jahre, hat einmal in einem taz-Interview gesagt, dass er in Moers nicht mehr spielen werde, solange Burkard Hennen Festivalleiter ist. War es schwierig, ihn für das aktuelle Programm wieder nach Moers zu lotsen?
Nein, da gab es überhaupt kein Problem. Ich habe ja einen anderen Hintergrund, komme aus einer Musikerinitiative, und da verbietet sich jeder Streit. Es gibt keinen Musiker auf der Welt, der von mir noch Geld zu kriegen hätte.
Brötzmann steht für den alten mitteleuropäischen Freejazz. Kann man das den Leuten überhaupt noch vermitteln?
Ja, unbedingt. Ich hab Peter Brötzmann im vergangenen Jahr drei Mal gehört mit drei verschiedenen Besetzungen. In New York, in Beirut und in Tampere. Peter Brötzmann ist einer der wenigen deutschen Weltstars, er macht einfach „Outstanding“. Je älter er wird, um so besser wird er. Er gehört für mich nach Moers wie zum Beispiel der Isländer Mugison, der Anfang 20 ist und einen ganz anderen Approach hat. Da liegen 40 Jahre Musikgeschichte zwischen. Aber in der Intention sind die beiden sehr nah beieinander. Mir geht es nur um die Identifizierbarkeit von Musikern. Ich will nicht das Wort „ehrlich“ bemühen, weil es so pathetisch ist, aber ich muss den Musikern glauben können.
Ist die Programmplanung für ein Festival oder einen Club vergleichbar?
Moers ist anders als andere Festivals. Ich habe das Ambiente, das große Zirkuszelt, 2.500 bis 3.000 Menschen, eine große Bühne. Da werden an die Musiker andere Anforderungen gestellt als in einem Club oder einer Philharmonie. Zudem ist mir wichtig, dass jeder Tag stimmig ist, dass man nicht erst alle vier Tage hören muss um einen Eindruck zu bekommen. Ich habe mich auch bemüht, möglichst viele Kulturregionen, verschiedene Musiziersprachen im Programm abzubilden, aber auch Musikerinnen einzuladen, die eigene Bands leiten, um dem Übergewicht der Männer etwas entgegen zu setzen.
Was hören Sie gerne?
Da ich den ganzen Tag Musik höre, relativiert sich das. Ich brauch immer eine gewisse Qualität.
Und wenn Marianne Rosenberg ordentlich singt?
Das würde ich nicht in Moers machen wollen. Aber mir ist eine gut singende Marianne Rosenberg lieber als ein schlecht spielender Freejazz-Saxofonist. Ich esse auch lieber gut gemachte Fritten als faule Austern.
Es gibt keinen Act, den Sie sich geschenkt haben?
Arve Henriksen spielt als „Artist in residence“ drei Mal. Diesen Musiker, den ich für einen ganz wichtigen Vertreter seiner Generation halte, über das gesamte Festival da zu haben, war mir wichtig. Und ein Paradigmenwechsel! Dafür stehen zum Beispiel Musiker wie Matthew Herbert, Jamie Lidell und Mugison.
Die African-Dance-Night ist dieses Jahr nicht mehr im Moers-Programm.
African-Dance-Nights sind in den 80er Jahren überall in Europa aus den Boden geschossen. Das war damals was Neues. In den 90er Jahren waren es die Kubaner mit Buena Vista Social Club, die diese Rolle übernommen haben. Das sind zwar hochinteressante Musiken, meist jedoch schon vor Jahrzehnten erfunden worden. Viele interessante asiatische, afrikanische und latein-amerikanische Musiker leben in Paris, London, Berlin und anderen Metropolen, es wird sehr spannend, welche neuen Musiken da mit großen Schritten auf uns zukommen.
Gibt es auf dem Festival einen Ersatz für die Dance-Night?
Ich werde zusätzlich ein Programm anbieten, das im weitesten und besten Sinne zum Dancefloor-Underground gehört – das interessiert mich auch künstlerisch. Und das jede Nacht ab Mitternacht. Und auch dieses Programm wird via UKW überall verfügbar sein. Wer möchte, kann überall, selbst da, wo man normalerweise von Anwohnern und Polizei vertrieben wird und auf dem Campground eine Headset-Party veranstalten.
Ihr Vertrag läuft fünf Jahre. Das artverwandte Festival im österreichischen Saalfelden ist vor zwei Jahren eingegangen. Hat das Moers-Festival darüber hinaus eine Zukunft?
Saalfelden wird es wieder geben. In Moers ist aber etwas ganz besonderes passiert. Die Kommune hat die Verantwortung übernommen, was sie vorher nie wollte. Viele Festivals sind Anfang bis Mitte der Siebziger entstanden. Viele Protagonisten sind auch in die Jahre gekommen und sind es leid, ihr Festival immer wieder gegen die Oper und Klassik durchsetzen zu müssen. Das war letztlich auch der Grund, warum Burkhard Hennen seinen Vertrag nicht verlängert hat – obwohl dieser Streit mit der Stadt in den letzten Jahren eigentlich nur noch als Ritual von ihm gepflegt wurde.
Was ist jetzt anders?
Moers ist die erste und einzige Stadt der Bundesrepublik, die sich zu dem Thema Jazz bekennt.
Sind Sie in Moers zufriedener als in Köln mit der dortigen Kulturverwaltung?
Moers investiert im Verhältnis zu seiner Größe am meisten Geld in Jazz. Die Stadt hat mit dem Festival einen Leuchtturm geschaffen. Ich bin in gutem Kontakt mit den Leuten von der„Röhre“, der wichtigsten historischen Spielstätte in Moers, dass wir auch übers Jahr eine gute Infrastruktur hinzubekommen.
Die Kölner sind doof?
Nein, Köln hat zur Zeit andere Prioritäten für den überregionalen Auftritt. Das ist der Karneval und eine gute Zweitligamannschaft im Fußball. Aber ich bin optimistisch, dass sich das ändern wird.
Wohin führt der Weg des Moers Festivals?
Wir Jazzleute haben immer um die Anerkennung unserer Musik gekämpft. Nun können wir uns nicht beschweren, wenn wir endlich anerkannt sind. Ich möchte etwas hochstapeln: Das was Salzburg für die Musik des 18. Jahrhunderts, Bayreuth für die Musik des 19. Jahrhunderts und Donaueschingen für die Musik des 20. Jahrhunderts ist, könnte Moers für die Musik des 21. Jahrhunderts werden. Zumindest hat Moers hier die Pole-Position.