: Vierzehnmal Hoffnung
AUS LEIPZIG HEIKE HAARHOFF
Sie steht vor dem schweren Portal der Nikolaikirche, von drinnen ertönt die Orgel, es ist das Zeichen, dass das Friedensgebet gleich beginnt. Christine Wolf verteilt an die Kirchgänger noch schnell ein paar grüne Bänder. Es sind ganz übliche Geschenkschleifen. Die restlichen stopft sie in ihre Anoraktasche. Es ist ein stummer Dienst, er braucht keine Worte und erwartet keine Nachfragen. Grün ist die Farbe der Hoffnung, Hoffen auf das Überleben von René Bräunlich und Thomas Nitzschke, „das ist alles, was bleibt“, sagt Christine Wolf, schlägt den Kragen hoch, befreit die Schuhe vom gröbsten Schnee und geht in die Kirche.
Solange es noch etwas zu tun gab in Leipzig, konnte sich die Ingenieurin Christine Wolf, 53, das Warten auf ihre beiden im Irak entführten Kollegen beinahe erträglich reden. Es war wie eine Testphase, wie ein Experiment. Kategorien, in denen die Ingenieurin zu denken gewohnt ist: Man hat eine Idee, probiert sie aus, wartet ihre Wirkung ab. Es war ein bisschen wie bei ihrer Arbeit bei der Cryotec Anlagenbau GmbH, die industrielle Gasanlagen baut, zuletzt im Irak.
Kein Lebenszeichen mehr
Aber vor der Leipziger Nikolaikirche gibt es nichts mehr auszuprobieren. Die Transparente mit der Bitte „René und Thomas: Lasst sie frei“ sind aufgehängt und ins Englische und Arabische übersetzt. Die Tafel, die den Verschleppten versichert „Unsere Herzen sind bei euch“ klebt an der Kirchenwand, davor brennen Kerzen. Der Außenminister hat im Fernsehen an die Entführer appelliert, die Mütter haben um die Freilassung ihrer Söhne gefleht, die Fußballmannschaft von René Bräunlich hat erst ein Spiel abgesagt und trägt jetzt das grüne Band am Trikot.
Wer es bislang gewohnt war, lösungsorientiert vorzugehen, kann verzweifeln angesichts solch hilfloser Versuche, eine Geiselnahme unblutig zu beenden. Dabei fehlt es nicht am guten Willen. Ein Professor hat in Leipzig über die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Entführung von Ausländern im Irak referiert, Gemeinden aus ganz Deutschland versichern den Familien, den Freunden, den Kollegen in Briefen ihre Solidarität.
Und da ist Christian Führer. Der fast weißhaarige Pfarrer der Nikolaikirche, einer der entscheidenden Initiatoren der Montagsdemos zur Wendezeit, sammelt Unterschriften für den Rückzug aller europäischen Truppen aus dem Irak, lädt zweimal wöchentlich zu Mahnwache und Friedensgebet, tröstet, redet, organisiert. 63 Jahre ist er diesen Monat geworden. Wenn man ihn fragt, woher er seine tiefe Zuversicht nimmt, dann sagt er, dass die Menschen in Leipzig noch aus dem Jahr 1989 wissen, wozu Gewaltfreiheit, Demut und Beharrlichkeit führen können. Aber damals ging es darum, dass ein Staat seine Bürger freigibt.
René Bräunlich, 32, und Thomas Nitzschke, 28, sind seit fast acht Wochen verschleppt. Drei Videobotschaften wurden verbreitet, in denen die Ingenieure vor den Gewehren ihrer vermummten Entführer knieten. Deren Forderungen: Schließung der deutschen Botschaft in Bagdad, Abzug aller deutschen Firmen binnen 72 Stunden. Das Ultimatum verstrich, eine neue Morddrohung folgte. Seither, seit fünf Wochen, ist der Kontakt abgerissen, an die Öffentlichkeit jedenfalls drang kein weiteres Lebenszeichen, und das Auswärtige Amt hat zum Schutz der Geiseln, man kann es verstehen, eine Nachrichtensperre verhängt.
Unterdessen ist in Bagdad Tom Fox ermordet aufgefunden worden, ein Friedensaktivist aus den USA, der seit November verschwunden war. „Ein furchtbarer Verdacht kommt auf“, sagt in Leipzig der Pfarrer Christian Führer. „Wer von uns die reale Gefahr aus den Augen verloren hatte, der wird jetzt daran erinnert.“
Etwa 250 Menschen hören ihm zu, darunter viele, die René Bräunlich und Thomas Nitzschke nicht persönlich kannten, aber sich für sie einsetzen möchten. Weil sie „zwei Söhne im gleichen Alter“ haben, wie eine 62-jährige Anwohnerin sagt, oder, wie es ein 70-jähriger Rentner formuliert, „weil so ein Kidnapping jeden unverschuldet treffen kann“. Dass die Ingenieure oder ihr Cryotec-Firmenchef Peter Bienert fahrlässig gehandelt hätten, davon geht niemand mehr aus.
Peter Bienert, 62, ein großer Herr mit Donnerstimme, der Medienanfragen in den ersten Tagen nach der Entführung schroff abwies, hat seine Informationspolitik geändert. Er ist bei jeder Mahnwache dabei, erklärt geduldig, dass seine Firma mit 15 Mitarbeitern zu klein sei, um mit den Großen zu konkurrieren, und sich deshalb auf den Anlagenbau in Ländern mit schlechter Infrastruktur spezialisiert habe – „das sind in der Regel Krisenländer“.
Bräunlich und Nitzschke, sagt er, seien auslandserprobt und gewissenhaft. Ihr Einsatz habe nur einige Tage dauern sollen. „Wir können uns deswegen nicht aus bestimmten Märkten zurückziehen.“ Nur in den Irak werde er „definitiv keinen mehr schicken“. Vielmehr würde er gern dazu beitragen, „dass Einheimische von dort besser ausgebildet werden“.
Es sind Worte, mit Bedacht gewählt, sie sollen signalisieren, dass er den Irak weder strafen noch bevormunden will, sondern das Land als Partner begreift. Überhaupt fällt die Kritik bei den Mahnwachen nur spärlich aus, selbst die an den Unbekannten, die die beiden Deutschen seit dem 24. Januar festhalten und zu töten drohen. Der Pfarrer beispielsweise gibt die Schuld an der Gewalt den Initiatoren des Irakkriegs: „Man kann sich vorstellen, dass viele Menschen im Irak von der westlichen Zivilisation die Nase voll haben.“
Die Frage ist, ob solche Eingeständnisse die Entführer beeindrucken. Vergangenen Montag war schon die dreizehnte Mahnwache, vorgestern die vierzehnte, übermorgen wird es, sollte nicht ein Wunder geschehen, die fünfzehnte sein, ohne dass etwas bewirkt worden wäre.
Nicht einmal, als Aktham Suliman mit seinem Kamerateam vorfuhr, bald vier Wochen ist es her. Al-Dschasira bei den Mahnwachenden in Leipzig! „Das“, sagt Christian Führer, „war so wichtig.“ Rund 35 Millionen Haushalte im Nahen Osten erreicht der arabische Fernsehsender mit Sitz in Katar. Er gilt im arabischen Raum nicht als US-nah und daher als sehr glaubwürdig. Und nun würde es auf diesem Fernsehkanal einen Bericht geben über die Reaktionen aus Deutschland auf die Geiselnahmen, einen Bericht, den die Entführten mit ein bisschen Glück sogar sehen könnten.
Christian Führer hatte zuvor oft angerufen im Berliner Büro von Aktham Suliman, genauer: anrufen lassen von den arabischen Studenten der Universität Leipzig, die auch regelmäßig zur Nikolaikirche kommen, und um einen Bericht gebeten. Aber der Deutschland-Korrespondent von al-Dschasira ist nicht nur zuständig für alles, was zwischen Flensburg, Berlin und München passiert, sondern er deckt auch noch Österreich, die Niederlande und teilweise Belgien ab.
Schließlich kam er trotzdem. Holte die Mutter von René Bräunlich vor die Kamera. Ließ den Pfarrer sprechen und nebenbei erwähnen, dass mit den dänischen Karikaturen übrigens auch aus Sicht eines Christen religiöse Gefühle verletzt worden seien. Filmte die Kerzen, den Schnee, die wunderschöne Nikolaikirche, dieses friedliche Bild stiller Anteilnahme vor historischer Kulisse. Vor allem filmte er die arabischen Studenten, die auf Arabisch an ihre Landsleute appellierten, die Deutschen freizulassen, deren Volk und Regierung doch gegen den Irakkrieg gewesen seien. Am „Wir-Sie-Schema“ rütteln nennt Suliman das.
Der Korrespondent – ratlos
Zwei Minuten, dreißig Sekunden dauerte sein Beitrag, das ist lang für eine Fernsehnachricht. Der nächste Tag war ein Freitag, Feiertag in allen arabischen Ländern. Feiertag heißt Familientag heißt Fernsehtag. Der Bericht aus Leipzig wurde achtmal gesendet, in voller Länge und in jeder Nachrichtensendung.
„Ich habe gehofft, dass sich danach etwas tut.“ Aktham Suliman, 1970 in Damaskus, Syrien, geboren, sitzt im siebzehnten Stock eines Bürogebäudes in der Berliner Friedrichstraße, von seinem Schreibtisch aus ist der Blick auf das Regierungsviertel unverstellt. Seit vier Jahren arbeitet er als Korrespondent für al-Dschasira, zuvor war er bei der Deutschen Welle. Er erinnert sich gut an den Bericht aus Leipzig, „sie machten es mir leicht, alles war perfekt organisiert“. Er blickt traurig drein. „Natürlich sind die Entführer selbst nicht mit solchen Bildern zu erreichen“, sagt er. Wohl aber die Mittelsmänner, religiöse Führer, einflussreiche Scheichs. Ihnen galt sein Bericht. Er sieht ratlos aus.
„Geiselnahmen im Irak sind unberechenbar“, sagt er dann. Oft seien die ursprünglichen Entführer nicht diejenigen, die die Geiseln tatsächlich in den Händen hielten: „Es ist ein Geschäft.“
Er weiß, wovon er spricht. Sechs Monate hat er in den vergangenen drei Jahren im Irak gearbeitet, fünf irakische Kollegen, die ihm sehr nahe standen, sind in dieser Zeit entführt und ermordet worden. Wochenlange Nachrichtenlosigkeit allein sei kein Grund, die Hoffnung aufzugeben: „Wären die beiden tot, dann hätten ihre Entführer dafür gesorgt, dass wir es wüssten.“
Andererseits weiß auch Aktham Suliman, dass die innenpolitische Lage im Irak einer baldigen Freilassung der sächsischen Ingenieure nicht unbedingt zuträglich ist. Gibt es einen Bürgerkrieg, dann haben auch Entführer dringlichere Sorgen, als mit den Regierungen ihrer Gefangenen zu verhandeln. „Also“, sagt er, „müssen wir versuchen, die Atmosphäre zu beeinflussen.“
Dahin gehend, dass das Land, aus dem die Geiseln stammen, in einem möglichst positiven Licht dasteht. Er grinst. Selbstzensur, das Wort ist ihm zu groß. „Sie wissen doch, dass man nie alles senden kann, zu wenig Zeit, zu wenig Platz.“ Das Grinsen wird breiter.
Seit Wochen berichtet al-Dschasira auffällig zurückhaltend über politische Ereignisse in Deutschland, die Muslime oder den Nahen Osten betreffen. Der Muslim-Test in Baden-Württemberg? Ist auch unter deutschen Politikern sehr umstritten, sagt Suliman in seinem Bericht. Die BND-Aktivitäten im Irak? Alle diesbezüglichen Informationen kommen aus den USA, berichtet er, die Bevölkerung war gegen diesen Krieg. Die Sprecherin eines Landesinnenministeriums verweigert ihm ein Interview mit dem Hinweis, sie rede nicht mit einem Sender, der geköpfte Geiseln zeige? Zornig erinnert sich Suliman an dieses Telefonat. Die Bilder stammten nicht von al-Dschasira, sondern aus dem Internet. Er verzichtet auf eine Verleumdungsklage.
Aktham Suliman zuckt mit den Schultern. Sollen andere denken, was sie wollen. „Ich“, sagt er, „habe zwei deutsche Geiseln sitzen im Irak.“