: Klassenzimmer sind vergiftet
Besonders Schulen aus den 60er- und 70er-Jahren sind chemisch verseucht. Experten warnen vor Gesundheitsschäden und fordern, dass Chemie-Industrie die Sanierung zahlt
FRANKFURT taz ■ Deutsche Schüler sind einer extrem hohen Dosis an Schadstoffen ausgesetzt. „Die Belastung durch giftige Chemikalien an Schulen hat zu einer Zunahme von Allergien, Konzentrationsmängeln und Lernstörungen geführt“, konstatierte etwa Frank Bartram von der Interdisziplinären Gesellschaft für Umweltmedizin (Igumed) gestern auf dem 10. Frankfurter Kolloquium Umwelt und Gesundheit.
„Verseucht“ seien vor allem Schulen aus den 60er- und 70er-Jahren, so der Grundschullehrer Wolfgang Krug. Seine Schule in Baunatal bei Kassel war 1992 geschlossen und dann abgerissen worden, nachdem 18 von 20 Lehrern vor allem an Krebs und irreparablen Schädigungen des Immunsystems erkrankt und 4 von ihnen bereits verstorben waren. Die 1970 aus Betonfertigteilen errichtete Schule war extrem mit PCB belastet. Aber auch Asbest, Formaldehyd, Lösungsmittel und Schimmelpilze wurden nachgewiesen. Im Fertigbeton fanden sich auch Erdalkali-Metalle wie Barium, Strontium (radioaktiv) und Zirkonium. Die Schule wurde abgerissen. „Vorbildlich“, wie Krug anmerkt. Im gesamten Landkreis Kassel seien danach die Schulen untersucht und saniert worden.
Doch Baunatal machte anderswo offenbar keine Schule. Rund 5.000 Schulgebäude in Deutschland seien noch immer mit Schadstoffen belastet, kritisierten die Gesundheitsexperten gestern übereinstimmend. Und saniert werde offenbar nur nach massiven Protesten von Schülern, Eltern. Doch oft würden bei der Sanierung wieder giftige Holzschutz- oder Lösungsmittel verwendet, monierte Oliver Wendenkampf vom BUND. Selbst Schulneubauten seien vielfach mit hormonell wirksamen Weichmachern belastet – die sich etwa in PVC-Fußböden befinden. In den Klassenzimmern dünstete eine Phalanx von Computern zusätzlich „bromierte Flammschutzmittel“ aus.
Die Gesundheitsexperten forderten die Sanierung und Überprüfung der betroffenen Schulen. Zu zahlen habe die chemische Industrie, die schließlich die Schadstoffverseuchung zu verantworten und sich dabei auch noch „dumm und dämlich verdient habe, so Johann Fonfara vom Interdisziplinären Arbeitskreis Umwelt und Gesundheit (IAK). Wenigstens ein Fonds sollte aufgelegt werden. Auch die Hausärzte seien zu sensibilisieren. Zudem müsse die Beweislast umgekehrt werden, so Wendenkampf abschließend. Die chemische Industrie habe die Unbedenklichkeit ihrer Produkte nachzuweisen – und nicht die Erkrankten, dass sie durch diese Produkte verseucht wurden.KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT