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Archiv-Artikel

Blockierte Übersicht am Hindukusch

ASYMMETRISCHE GEFAHR Der Journalist Marc Thörner recherchierte zwei Jahre in Afghanistan. Seine Reportagen sind nun als Buch erschienen

Thörner trifft sich mit Beamten, die zwar wissen, dass sie bedroht sind, aber nicht so recht, von wem

Bei der Nato ist seit Ende der 1990er-Jahre viel von Warlords, Drogenhandel und Fundamentalismus die Rede. Die irregulären Kriegsakteure, aus Hollywoodstreifen bestens vertraut, gelten als die große neue Herausforderung des Westens. Nicht zuletzt auch der Militäreinsatz in Afghanistan wird mit dieser „asymmetrischen Gefahr“ legitimiert.

Dass hier etwas nicht stimmt, könnte auch schon bei oberflächlicher Betrachtung auffallen. So wurde der religiöse Fundamentalismus, beispielsweise in Gestalt des wahhabitischen Saudi-Arabiens, jahrelang als wichtiger geopolitischer Verbündeter betrachtet. Der Drogenhandel gewann im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet erst an Bedeutung, als der vom Westen unterstützte „Freiheitskrieg“ gegen die Sowjetunion finanziert werden musste. Und der Warlords schließlich bediente man sich 2001, als es galt, die Taliban-Regierung zu stürzen. Die westliche Staatengemeinschaft pflegt ganz offensichtlich ein pragmatisches Verhältnis zu jenen Akteuren, die doch gleichzeitig als Hauptfeinde bezeichnet werden.

Diese Unstimmigkeiten stellen auch den Ausgangspunkt für Marc Thörners Buch „Afghanistan-Code“ dar. Der Hamburger Journalist, der die Schauplätze des „War on Terror“ seit einigen Jahren bereist, wirft die Frage auf, inwiefern die Kriegführung des Westens mit Warlords und Fundamentalismus verflochten ist. Anhand von Einzelreportagen rekonstruiert er zunächst die verschiedenen Ebenen des Afghanistan-Krieges. Dabei bestätigt sich nicht nur die Annahme, dass die Situation am Hindukusch komplex ist, weil sich Besatzung, ethnische Konflikte, religiöser Fundamentalismus und ökonomische Strategien der Selbsterhaltung überlagern. Liest man Thörners Berichte, so gewinnt man außerdem den Eindruck, dass auch die Akteure keine rechte Ahnung haben, was sie eigentlich machen. Wüsste man nicht von Tausenden von Toten, so könnte man Thörners Reportagen als Realsatire lesen. Thörner porträtiert Bundeswehrsoldaten, die ihr Camp kaum verlassen (man darf wohl hinzufügen, dass es etwas sehr Sympathisches hat, wenn deutsche Soldaten nicht kämpfen wollen), er spricht mit US-amerikanischen Feldgeistlichen, deren religiöser Wahn dem Eifer der wahhabitisch inspirierten Taliban in nichts nachsteht. Thörner trifft sich mit Beamten, die zwar wissen, dass sie bedroht sind, aber nicht so recht, ob von Warlords, Taliban oder Spezialeinheiten der Besatzungstruppen.

Und er recherchiert über das Todesurteil gegen den Studenten Sayed Perwiz Kambakhsh. Zunächst hatte es geheißen, das Todesurteil stehe im Zusammenhang mit Internetrecherchen des Studenten, später war zu hören, es sei als Drohung gegen den Bruder des Verurteilten, einen unabhängigen Journalisten, gedacht gewesen. Thörner bekommt nun die Version präsentiert, der Prozess habe einfach mit der Denunziationen eines beleidigten Hochschullehrers zu tun gehabt.

Der Wahnwitz, der sich Afghanistans bemächtigt hat, scheint keine Grenzen zu kennen. Und so kommt man zu dem Eindruck, dass das Land vor allem deswegen als „Friedhof der Supermächte“ bekannt wurde, weil die undurchsichtige Lage jede imperiale Strategie blockiert.

Thörners „Afghanistan-Code“ sollte Pflichtlektüre für alle sein, die dem Militäreinsatz jemals etwas abgewinnen konnten. Vielleicht hatte das demokratisierende Nation-Building, von dem westliche Politiker – nicht zuletzt der grüne deutsche Außenminister Fischer – so viel gesprochen haben, tatsächlich einmal eine Chance. Aber dann zuletzt 1979, unter den Sowjets. Heute, so könnte man den afghanischen Irrsinn mit Thörner beschreiben, paktiert der Westen heimlich mit jenen Kreaturen, die er einst mit erschuf, aber mittlerweile bekämpft; es sei denn, sie lassen sich irgendwie in die eine Kontrollstrategie einbinden.

RAUL ZELIK

Marc Thörner: „Afghanistan-Code“. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 160 Seiten, 16 €