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Archiv-Artikel

Umsonst Schnaps in der Happy Hour

Ufologen, Tänzer und die zwei Gottschalks bei 20 Grad minus: Unterwegs auf dem Filmfestival im finnischen Tampere

Statt Schlüssel gab es nur Codes und mit dem Fernseher im Zimmer des Hotels konnte man auchim Internet surfen

Von allen Filmfestivals ist mir das Kurzfilmfestival Tampere, das am Sonntagabend zu Ende ging, das liebste. Komisch, das zu sagen, denn ich war das erste Mal in der 200.000-Einwohner-Stadt, die als finnisches Manchester galt und sich 2011 für den Titel Kulturstadt Europas beworben hat.

Wenn man es richtig ausspricht, klingt „Tampere“ sehr wehmütig. Der Name war mir zuerst vor Jahren beim Dokfilmfest Leipzig in einem Film über Aki Kaurismäki und Herbert Achternbusch begegnet. Nun war ich zu Besuch bei einer finnischen Freundin, deren Name übersetzt tatsächlich „Schneewittchen“ bedeutet. Sie hatte vorgeschlagen, nach Tampere zu fahren. Zweieinhalb Stunden dauerte die Busfahrt von Helsinki Richtung Norden durch Postkartenlandschaften, an vereinzelten Skilangläufern und Bobfahrern vorbei.

Als ich aus dem Bus ausstieg, sah ich als Erstes eine russisch-orthodoxe Kirche auf einem Hügel und einige rauchende Fabrikschlote. Verschneit sah alles schön und weit weg aus in der eisigen Kälte, und man wünschte sich hierherzuziehen, um ein neues Leben zu beginnen. Im Hotel gab es statt Schlüssel bloß Codes, die man an mehreren Sicherheitsschleusen eintippen musste. Mit dem Fernseher im Zimmer konnte man auch im Internet surfen.

Das Festivalgelände lag in einem alten Fabrikbereich. Es war auch der erste elektrisch beleuchtete Ort Nordeuropas gewesen. In Multiplexen mit interessanten Spielautomaten im Eingangsbereich wurden die Filme gespielt. Es gab auch Restaurants und einen äußerst angenehm gestalteten Bereich für Festivalgäste mit umsonst Schnaps in der Happy Hour. Draußen vor den Türen rauchten die Leute in Mützen und Handschuhen, weil's drinnen verboten war.

Alle waren sehr gesprächig. Ein Festivalfahrer erzählte von einem mexikanischen Regisseur, der im T-Shirt gekommen war und sich zunächst geweigert hatte, sein Flugzeug zu verlassen, denn es waren minus 20 Grad. Später hieß es, Kurzfilme seien wie Kurzgeschichten, und überhaupt hätten Filmfestivals mittlerweile die Rolle, die früher von Filmklubs eingenommen worden war, um solchermaßen das Multikulturelle zu befördern, so die finnische Kulturministerin Tanja Karpela in ihrem Grußwort.

An fünf Tagen gab es unzählige Filme, Schwerpunktprogramme, die sich unter anderem mit Filmen der Roma oder dem islamisch-westlichen Dialog beschäftigen, eine hervorragend Reihe mit historischen Filmen über das industrielle Tampere, diverse Länder- und Wettbewerbsprogramme, in Werkschauen wurde neben anderen auch der deutsche Experimentalfilmer Matthias Müller geehrt. Samstagnachts gab es ein UFO-Spezialprogramm dessen letzter, großartiger Film – Sun Ras „Space is the place“ von 1974 – erst um fünf Uhr morgens begann. Vor manchen Filmen gab es eine DHL-Werbung mit den Gottschalks, die in Tampere noch blöder wirkten als sonst.

Viele der Filme, die ich sah, beschäftigen mich noch immer. Am besten gefiel mir der mehrfach ausgezeichnete Film „365 days“, ein 18-minütiges Videotagebuch des finnischen Tänzers und Choreografen Reijo Kelan. In 365 Einstellungen berichtet er von seinem Jahr 1999. An jedem Tag huschte er albern, lustig, manchmal auch nackt, tanzend, rollend, händeschüttelnd, stets von rechts nach links durchs Bild. An allen möglichen Orten, selbst im Krankenhaus, wo er ermattet nur müde winken kann. Zur Preisverleihung, bei der (wie bei anderen Festivals auch) nur noch zwei Drittel der ausgezeichneten Filmemacher anwesend waren, machte der 54-Jährige eine Rolle auf der Bühne.

In Tampere fühlte sich mein Leben plötzlich sich viel wirklicher an als in Berlin; vielleicht weil die Farben deutlicher waren, weil das Finnische so eine angenehme Melodie hat, weil der glitzernde schöne Schnee mich an meine Kindheit erinnerte. Nachts hatten wir biertrinkend in dem 1912 erbauten Restaurant „Tillikka“ gesessen. Nie war ich an einem melancholischeren Ort gewesen. Mahtavaa heißt klasse und nadään pian bis bald.

DETLEF KUHLBRODT