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Archiv-Artikel

Die Wut der Bauern von Luji

AUS LUJI GEORG BLUME

Lu Gang* ist der Hausherr, er bittet alle Nachbarn herein. Bald ist die kleine Ziegelhütte des Bauern voller Menschen. Sie drängen sich zusammen, Männer, Frauen und Kinder in dicker Wollkleidung. Sie wollen Lu Gangs Bericht hören. Er ist der einzige, der „die Schlacht“, von der alle in Luji reden, unverletzt überstanden hat. Er ist der Einzige, der nicht im Krankhaus liegt, er kann berichten, was auf dem Dalao-Berg bei Luji wirklich geschehen ist.

Aber so weit ist es noch nicht. Im Moment ist Lu Gang viel zu aufgeregt zum Reden. Er rennt aus dem Haus, sucht nach Holzhockern für die Gäste. Drinnen haben sich die Älteren auf zwei schmalen Bänken niedergelassen, die Jüngeren bleiben stehen. In der Hütte gibt es außer den Bänken und einem Tisch keine Möbel. Sogar der übliche Fernseher fehlt.

Lu Gang ist – selbst für chinesische Verhältnisse – ein armer Bauer. Als einzige Beleuchtung hat er eine Neonröhre an einem langen Draht aufgehängt. Der reicht von einer Wand zur anderen und dient zugleich als Wäscheleine. Die Röhre beleuchtet ein altes, ausgerissenes Kalenderbild an der Wand, Kraniche sind darauf zu sehen. Nach altem chinesischem Volksglauben verheißen Kraniche ein langes Leben. Daneben hängt ein blauer Fisch aus Pappe, er trägt eine rote Seidenschleife um den Kopf. Der Fisch verheißt Wohlstand. Doch den gibt es hier in Luji in der Provinz Anhui nicht. Stattdessen Wut und Verzweiflung.

Bulldozer auf Bauernland

Lu Gang ist wieder hereingekommen, aber setzen will er sich nicht. „Ich war draußen auf dem Schlachtfeld. Ihr habt ja keine Ahnung …“, schnaubt er verächtlich. Die Umstehenden fordern ihn auf, doch endlich zu erzählen. Lu aber reagiert ärgerlich, als habe man ihn unterbrechen wollen. Wieder verlässt er die Hütte. Er trägt braune Anzughosen über Gummistiefeln, eine schwarze Baseballmütze und schwarze Wollmanschetten bis zum Ellbogen. Graue Bartstoppeln verraten ein Alter über 45. Er stapft durch den Schneematsch vor seiner Hütte. Dann kehrt er erneut zurück. Es ist mucksmäuschenstill. Lu Gang hebt an: „Wir sind also auf den Berg gefahren – wir mit dem Trecker, einige andere mit dem Auto …“

Es war der 20. Februar. Lu Gang hatte gerade mit ein paar Nachbarn zu Mittag gegessen, als der Anruf kam: Auf dem dorfeigenen Dalao-Berg seien Bagger und Bulldozer eingetroffen. Das Bergbauunternehmen Jianshan wolle ohne Erlaubnis des Dorfes mit Minenarbeiten beginnen. Sofort machten sich Lu Gang und siebzehn weitere Bauern auf den Weg. Keiner von ihnen ahnte, was sie dort erwartet. „Als wir mit dem Trecker oben ankamen, lagen die Männer, die mit dem Auto vorgefahren waren, schon am Boden“, erinnert sich Lu Gang.

150 Bergarbeiter in blauen Arbeitsanzügen erwarteten sie – junge Typen aus Sichuan und anderen Provinzen. Sie trugen gelbe und rote Helme, hielten Holzstangen in den Händen.

Lu Gang bildet aus Daumen und Zeigefingern einen Kreis – so dick seien die Stangen gewesen. Und einen Meter lang. Nicht Werkzeuge seien das gewesen, sondern Waffen. Waffen gegen die Bauern von Luji.

In dem Moment auf dem Berg aber erfasste er die Gefahr nicht richtig. Er sprang vom Trecker und ging auf den Chef des Bergbauunternehmens zu, der neben den Arbeitern stand: Generalmanager Fan. Fan trug eine braune Jacke. Lu kannte ihn. Drei Monate zuvor war er in Luji gewesen, um mit den Bauern eine Entschädigungssumme für den Eisenerzabbau am Dalao-Berg auszuhandeln. Damals hatten die Dörfler zwölf Verhandlungsführer gewählt, einer war Lu Gang. Sie hatten eine Entschädigungssumme von drei Millionen Yuan, 300.000 Euro, gefordert. Eigentlich nicht viel für ein weitläufiges Hügelgelände, dass den Bauern bislang als Obst- und Friedhofsberg gedient hatte. Doch zu viel für Generalmanager Fan. Er lehnte das Angebot der Bauern ab, ließ sich drei Monate nicht in Luji blicken – bis zu diesem 20. Februar, als er ohne Vorwarnung die Bagger auf den Berg schickte und seinen Arbeitern Knüppel in die Hände drückte.

Unverschämtes Böllerfest

Endlich begann Lu Gang die Situation zu erfassen. „Warum wollt ihr uns schlagen?“, rief er Fan entgegen. „Wir wollen doch mit euch reden!“ Der entgegnete kühl: „Wir können euer Verhalten nicht länger ertragen.“ Auf sein Zeichen hin schlugen die Arbeiter zu.

An Gegenwehr war nicht zu denken. Zu mehreren gingen die gedungenen Arbeiter auf die Bauern los, sie prügelten mit den Holzstangen, bis den Opfern Knochen und Gelenke brachen. Lu Gang wurde als einziger zur Seite geschleppt und blieb von Schlägen verschont. Er sah blutende Körper über die Erde rollen, hörte seine Nachbarn vor Schmerz schreien. Von den prügelnden Bergarbeitern aber hörte er kein Wort. Sie handelten nicht in Rage, sie erledigten stumm ihren Auftrag.

Kurz darauf konnte Lu Gang entkommen und im Dorf Alarm schlagen. Alle Dörfler, selbst Greise, Frauen und Kinder, zogen den Berg hinauf. Doch die Arbeiter waren auch darauf vorbereitet. Sie hatten inzwischen einen tiefen Graben durch die Straße gebaggert, als Blockade. Hinter dem Graben aber zündeten die Arbeiter China-Böller. So feierten sie ihren Sieg über die Bauern. Zwischen ihren Baggern lagen im Matsch noch immer ihre blutenden Opfer. Drei Stunden ließ die Polizei die Täter gewähren, dann endlich konnten die Verletzten geborgen und ins Krankenhaus gebracht werden. Siebzehn Bauern wurden verletzt, fünf von ihnen schwer.

„Etwas so Schlimmes habe ich mein Leben lang nicht erlebt, nicht im Krieg gegen die Japaner, nicht während der Revolution 1949“, sagt ein alter Bauer, als Lu Gang seine Erzählung beendet hat. Ihn empört vor allem die Ehrlosigkeit der Gegner. Weder gegen die Japaner noch 1949 sei das Dorf unbewaffnet gewesen – man habe Mann gegen Mann gekämpft. Dagegen sei „die Schlacht vom Dalao-Berg“ ehrlos gewesen.

Eine 40-jährige Bäuerin im rosa Leinenmantel mit dem Markenzeichen „Pierre Cardin“ regt etwas anderes auf: das „unverschämte Böllerfest“. Schamlos, ehrverletzend sei das gewesen. Sie hat eine Mülltüte mit abgebrannten Knallern dabei – Beweismaterial.

Vier Wochen liegen die Ereignisse nun zurück. Vier Wochen befindet sich Luji im Belagerungszustand. Oben auf dem Berg graben sich die Bagger jeden Tag etwas tiefer in die Erde ein. Unten im Dorf wagt keiner mehr, sich dem Berg zu nähern, aus Angst, die Arbeiter könnten erneut zuschlagen. Und noch immer liegen die Verletzten im Krankenhaus. Manche sind erst in den letzten Tagen operiert worden. Keiner weiß, ob sie je wieder die schwere Feldarbeit verrichten können werden. Alles zusammen schürt den Ärger der Dorfbewohner. Aber mehr noch empört sie das Verhalten von Polizei und Verwaltung. Seit vier Wochen bleiben die Behörden tatenlos. Nur die Kosten für die Krankenhausbehandlung der Verletzten werden von der Gemeinde übernommen. Doch keiner der Täter, schon gar nicht Generalmanager Fan, wird zur Verantwortung gezogen. „Die Beamten in unserem Kreis helfen immer den Unternehmen“, sagt ein älterer Bauer in Lu Gangs Hütte resigniert.

Einer in der Runde kann die Schmach nicht länger ertragen: Lu Bin, mittleren Alters, trägt eine schwarze Jacke auf seinen breiten Schultern. Er steht auf, tritt in die Mitte des Raums und redet Klartext: „Wer Geld hat, glaubt sich in diesem Land alles erlauben zu können“, sagt Lu Bin. Aber so könne es nicht bleiben. Die Bauern müssten auf der Einhaltung der Gesetze bestehen. Die Gewalttaten im Auftrag der Firma Jianshan müssten bestraft und an die Opfer Entschädigungen gezahlt werden. „Sie sind reich und sie machen mit uns, was sie wollen“, sagt Lu Bin zu den Umstehenden. Gerade deshalb müssten sie sich jetzt wehren. Aber wie?

Öffentlichkeit als Waffe

Nach kurzem Nachdenken winkt Lu Bin einen Bauern herbei. Lu Shengying ist Vater eines der Opfer. Die beiden beraten darüber, den Reporter ins Krankenhaus zu führen. Damit er Fotos von den Schwerverletzten machen kann; damit die Geschichte von Luji bekannt wird; damit die Behörden Druck von außen bekommen.

Doch das Vorhaben ist riskant. Die Kranken werden regelmäßig von der Polizei kontrolliert. Die Bauern diskutieren. Nach einer Weile sagt Lu Shengying: „Los!“ Einen Plan hat er nicht. Er geht einfach voran. Setzt sich ins Auto. Hält eine Stunde später vor dem Volkskrankenhaus Nr. 2 der Stadt Chaohu. Schaut nicht zur Seite, bis er am Bett von Lu Faming steht. Der 45-jährige Schwerverletzte ist bewusstlos, gerade wurde er am Arm operiert. Lu Shengying führt weiter, zum Krankenbett seines Sohnes. Der wurde an Kopf und Beinen getroffen, ist seither die meiste Zeit nicht ansprechbar, weil die Ärzte ihm starke Psychopharmaka geben. Vermutlich auf Anordnung der Gemeindebehörden, die nicht wollen, dass die Opfer reden. „Sein Kopf blutete, er schrie, als er vor mir auf dem Boden lag“, berichtet Lu Shengying.

Plötzlich steht der Direktor des Krankenhauses an seiner Seite. Er trägt ein rotes Parteiabzeichen auf einem dunkelblauen Geschäftsanzug, sagt, der Reporter habe keine Interviewgenehmigung. Dann benachrichtigt er die Polizei. Bis sie anrückt, ist der Reporter weg. Die Bauern aber werden verhört. Sie sagen, der Reporter habe sich als ausländischer Mitarbeiter der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua ausgegeben.

* Namen der Bauern geändert