Déformation professionelle

DAS SCHLAGLOCH VON HILAL SEZGIN Halbwissen über den Ramadan findet sich auch bei den Gebildetsten

■ ist Journalistin und lebt in der Lüneburger Heide. Zuletzt erschien von ihr: „Landleben. Von einer, die raus zog“ (DuMont Verlag, 9,99 Euro). Bis 2006 betreute sie das Ressort Sachbuch der Frankfurter Rundschau.

Der Ramadan liegt hinter uns. Letztes Mal schrieb ich über seine religiösen Seiten, aber manchmal ist er auch eine Prüfung ganz anderer Art, nämlich ein Test auf Interkulturalität. Wie zum Beispiel an jenem Ramadan-Abend, als ich bei Bekannten zum Essen eingeladen war. Weitere Gäste waren eine Universitätsprofessorin, ein Professor und eine Lehrerin. Die Gastgeber verschwanden in der Küche, und die Gäste wollten wissen, wie das denn mit dem Fasten im Ramadan sei.

Ach, wenn sie es doch nur wirklich hätten wissen wollen! Die Lehrerin: „Ich versteh nicht, warum man da auch nichts trinken darf. Fasten ist doch einfach nur nicht essen. Wieso nicht trinken?“ Ich antwortete ihr, dass die Definition, was Fasten „sei“, eben selber traditionsabhängig ist.

Ohne Trinken

Aber ohne Trinken sei brutal. „Ich habe früher mal in einer Fabrik gearbeitet, da sind die Frauen reihenweise umgefallen, das war viel zu hart für die.“ Es stellte sich heraus, dass nur eine einzige Frau „reihenweise“ umgefallen war. Aber auch das ist natürlich nicht Sinn der Sache. Ich erklärte ihr, dass für körperlich hart arbeitende Menschen andere Bestimmungen gelten und dass das Fasten keinesfalls gesundheitsschädigend durchgeführt werden soll.

„Was ist überhaupt der Zweck dahinter? Man soll im Ramadan im Koran lesen, ja? Das ist doch nur was für Intellektuelle, die den ganzen Tag in der Ecke sitzen!“ Ich erwiderte, in der 1.400 Jahre währenden Geschichte des Islams seien gewiss nicht alle Muslime Intellektuelle gewesen.

„Und das nur, weil sich das so ein Mudschaheddin ausgedacht hat! Ja, der kann den ganzen Tag Koran lesen!“ Hier habe ich nicht geschaltet. Ich war völlig verwirrt über die Mudschaheddin; erst später ging mir auf, dass sie vermutlich Mullahs gemeint hatte. Oder Muftis?

Egal, denn noch während ich mein kümmerliches Wissen über den afghanischen Kampf gegen die Sowjets darauf durchforstete, was er mit dem Fasten zu tun haben könnte, machte sie eine 180-Grad-Wendung. In solchen Diskussionen genießt Logik ja keine Privilegien: „Überhaupt, am Abend darf man wieder trinken. Da lügt man sich doch etwas in die Tasche, das ist doch Gottesbescheißerei!“ Wörtlich. „Katholisches Fasten, das ist richtiges Fasten! 40 Tage lang!“ Anscheinend glaubte sie, dass katholisches Fasten 40 Tage Nahrungsentzug bedeutet. „Da habe ich Respekt vor. Aber wenn man abends wieder isst und trinkt?“

Ich gebe zu, dass mir hier der Geduldsfaden zitterte. Ich sagte, dass ich Worte wie „Gottesbescheißerei“ zu aggressiv und abwertend fände. Die anwesende Professorin hatte der Lehrerin bis dahin eher halbwarm sekundiert; jetzt maßregelte sie mich: „Na, Gottesbescheißerei, jetzt übertreiben Sie aber!“

Sie sagte: Gottesbescheißerei

Ich: „Sie hat wörtlich Gottesbescheißerei gesagt.“

Die Lehrerin nickte. „Hab ich gesagt.“ Und ich stand auf, verabschiedete mich in der Küche von den Gastgebern und ging, hungrig, wie ich gekommen war.

Mir ist natürlich klar, dass das kein Einzelfall war; dass jeden Tag wesentlich üblere rassistische Dinge geschehen. Auch während des Ramadan kursierten in Nischenmedien etliche Meldungen über beschmierte islamische Kulturzentren; beschimpfte kopftuchtragende Frauen; verweigerte Hilfeleistungen; Naziversammlungen etc. Ich weiß gar nicht, wie vielen solcher Ereignisse es gelingt, die Aufmerksamkeitsschwelle der Mainstream-Medien zu überschreiten.

Dagegen war dieser Abend natürlich Pipifax. Aber in einer Hinsicht doch nicht: Dies hier waren nicht irgendwelche adoleszenten Plump-Nazis, die hier zählten zu den Gebildeten. Dies waren angeblich Linke, politisch Reflektierte; sie müssten sozusagen die Avantgarde der multikulturellen Gesellschaft bilden. Vermutlich halten sie sich selbst für Kosmopoliten, haben bereits die halbe Welt bereist und doch nix dazugelernt.

Der Preis der pluralistischen Gesellschaft ist nun einmal diese ständig auftretende Verständnislücke

Heterogen ausdifferenziert

Dabei geht es nicht darum zu lernen, was Fasten bedeutet oder was Mudschaheddin sind. Es geht schlicht darum zu lernen, dass wir in einer modernen Gesellschaft, die durch Einwanderung, aber auch etliche andere Faktoren stark heterogen ausdifferenziert ist, ständig auf Menschen stoßen werden, deren Hintergrund wir nicht kennen. Natürlich kann man vermeiden, mit Angehörigen anderer Gruppen und Milieus je näher bekannt zu werden (zum Beispiel gehe ich jede Wette ein, dass diese drei keinerlei muslimische Freunde haben).

Aber wenn wir über den eigenen Horizont unserer immer kleiner, weil spezifischer werdenden Peer-Groups hinaus sinnvolle Gespräche führen wollen, müssen wir deutlich mehr Geduld mitbringen. Wir können nicht alles wissen, aber wir müssen – so blöd sich das jetzt anhört – einfach mal zuhören. Nicht nur Leuten mit anderen Religionen. Auch Leuten mit anderen Konventionen, Bedeutungskontexten, sozialen Konstellationen. Vielleicht ist es eine spezifische déformation professionelle der Linken, immer gleich alles zu beurteilen, zu allem eine Meinung haben zu wollen. Aber es gibt in unserer Gesellschaft so viele unterschiedliche Phänomene, Positionen und vor allem Menschen, dass wir nicht sofort eine Meinung zu ihnen haben können. Oder sollen. Oder dürfen. Weil wir sie einfach noch nicht verstehen.

Das gilt übrigens genauso für mich. Wenn ich einem Ostergottesdienst folge oder wenn ich sehe, wie jemand seinem Kind „Bärchenwurst“ aufs Brot legt oder wenn eine andere Frau mit Stöckelschuhen zu einem Hoffest erscheint. Ist mir alles ein Rätsel. Aber die Leute haben ihre Gründe, denen ich mich auf Dauer nicht anschließen, die ich aber zunächst einmal verstehen muss. Das gilt leider sogar da, wo ich Angehörigen einer säkularen Elite begegne, die bei „Ramadan“ sofort Mudschaheddin und ohnmächtige Fabrikarbeiterinnen assoziieren. Der Preis der pluralistischen Gesellschaft ist nun einmal diese ständig auftretende Verständnislücke, die jedes Mal mit Geduld ausgehalten und sprechend, nein: zuhörend gefüllt werden will.