: Kein Vergleich mit der ÖTV und 1992
Der Ver.di-Streik beweist: Im Vergleich zum Arbeitskampf 1992 hat die Gewerkschaft an Einfluss verloren. Der Grund: Immer mehr Arbeitsplätze werden abgebaut, immer mehr öffentliche Aufgaben privatisiert
BERLIN taz ■ „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“, titelte die Bild-Zeitung damals, vor 14 Jahren, als die Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, Monika Wulf-Mathies, die Bediensteten bei Verkehr und Müllabfuhr aufgerufen hatte, bundesweit in einen Streik zu treten. Die ÖTV forderte damals eine Lohnerhöhung von 9,5 Prozent. Nostalgisch mutet diese Forderung heute an. Denn jetzt geht es nicht mehr um Lohnprozente, sondern nur noch darum, den Gewerkschaften etwas Verteidigungsmacht zu erhalten.
Nur 18 Minuten pro Tag, deswegen streike die Gewerkschaft Ver.di, so verbreiten die Arbeitgeber. Doch was für viele Beschäftigte in der privaten Wirtschaft wie ein Streik aus banalen Gründen erscheint, ist in Wirklichkeit Symptom einer Machtverschiebung: Einseitig haben die Arbeitgeber in den Kommunen die Arbeitszeitrichtlinien gekündigt und in den Ländern einen neuen Tarifvertrag nicht akzeptiert. Neueingestellten und Beförderten wird statt der 38,5- die 40-Stunden-Woche verordnet. Da zunehmend Neubeschäftigte im Personal nachrücken, wird so die geltende Wochenarbeitszeit unterlaufen. Beamte konnten ohnehin einseitig zur 40-Stunden-Woche verdonnert werden.
Es blieb Ver.di-Chef Frank Bsirske gar nichts anderes übrig, als gegen diese Provokation mit einem Arbeitskampf ins Feld zu ziehen. Was als lächerlicher Streit um ein paar Minuten mehr daherkommt, ist in Wirklichkeit ein Abwehrkampf nicht nur gegen die 40-Stunden-Woche, sondern auch gegen eine neue Kultur einer einseitigen Verfügungsmacht der Arbeitgeber.
In der Tariflandschaft der 90er-Jahre wäre ein solches Vorgehen schwer denkbar gewesen. „Heute aber verfügen die Gewerkschaften nicht mehr über die gleiche Verhandlungsmacht wie früher“, sagt Michael Fichter, Gewerkschaftsexperte an der Freien Universität Berlin. Die öffentliche Haushaltskrise, die fortschreitende Privatisierung auch im Zuge der EU-weiten Ausschreibungen von Dienstleistungen sind für Fichter Gründe der bröckelnden Verhandlungsmacht. Das Personal im öffentlichen Dienst ist zwischen 1994 und dem Jahre 2004 um rund 800.000 Beschäftigte auf nur noch 4,7 Millionen gesunken. Viele der Bediensteten landeten in privatisierten Unternehmen mit anderer Tarifgestaltung.
Gleichzeitig fällt auch das Arbeitgeberlager auseinander. Im Unterschied zur Bundesregierung und den Städten und Gemeinden akzeptierten die einzelnen Länderregierungen nicht den neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst – deswegen muss Ver.di jetzt auch an dieser Front streiken. Gleichzeitig kündigten die Kommunen in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg die Arbeitszeitrichtlinien – hier wurde und wird deshalb regional verhandelt.
Genau das, was die alte ÖTV so mächtig erscheinen ließ, erweist sich aber jetzt, im Verteidigungsstreik von Ver.di, als fatal: Ein Streik im öffentlichen Dienst trifft immer die BürgerInnen. In einer Zeit, in der viele Menschen Verschlechterungen am eigenen Arbeitsplatz spüren, sinkt das Verständnis für einen Streik um die 38,5-Stunden-Woche. Zudem entwickelt sich der Arbeitskampf mancherorts zu einem unfreiwilligen Testlauf, wie viel Müll sich mit privaten Unternehmen wegschaffen lässt. In Stuttgart beispielsweise haben auf diese Weise 80 Müllfahrzeuge den Abfall weggeräumt, in Freiburg wurden Leiharbeiter eingesetzt.
1992 streikten hunderttausende Beschäftigte, jetzt sind es immer nur ein paar zehntausend. Die mediale Vermittlung, welchen Sinn geschlossene Kitas und aufgetürmte Müllberge haben, wird immer schwieriger. Darauf setzen die Arbeitgeber. Auch so kann man Gewerkschaften kleinkriegen.
BARBARA DRIBBUSCH