Kleine Lösungen

Handeln heißt anfangen können. Wie lassen sich in einer Welt, der die Arbeit ausgeht, soziale Kräfte bündeln und gestalten? Dabei sollten KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen mitmischen: Wege und Umwege in die Kulturgesellschaft. Ein Plädoyer

von Adrienne Goehler

Es steht uns frei, die Welt zu verändern und in ihr Neues anzufangen. Hannah Arendt

Die Kulturgesellschaft ist ein Entwurf ins Offene, der auf die Gestaltung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zielt. Das Verständnis einer Kulturgesellschaft folgt keiner Einheitslogik, denkt nicht in Fläche, auch nicht in Flächentarifen, gibt dem weisen, etwas in Vergessenheit geratenen Gedanken von „think globally, act locally“ eine veränderte Plattform, meint die ganze Fülle gesellschaftlich konkreter Erfahrungen und die Absicherung von deren Grundlagen.

Kulturgesellschaft ist eine Haltung. Wenn auch noch nicht erkennbar etabliert, so ist sie doch zunehmend bei jenen anzutreffen, die ihr Dasein als verpflichtete und verrechtete StaatsbürgerInnen ungenügend empfinden, die versuchen, diesem Zustand mit noch individuellen Strategien zu entkommen.

Der deutsche Sozialstaat hat sich darauf beschränkt, den Reichtum der Gesellschaft an materiellen Lebensvoraussetzungen und Karrierechancen so zu verwalten, dass ein gewisser Ausgleich für die ökonomischen Unterschiede gewährt wurde und alle sich irgendwie leidlich aufgehoben fühlten. Diese Konstruktion von Sozialstaat war auch zu seiner Blüte eine Passivität erzeugende. Richard Sennett nennt diese verwaltete Gesellschaft einen „Ammenstaat“. Der Formel, „alle werden irgendwie versorgt, müssen dafür aber hinnehmen, verwaltet zu werden“, fehlt inzwischen die Voraussetzung. Es gibt die Versorgungshoffnung nicht mehr, der Staat aber verwaltet, berechnet, bemisst weiterhin, rekurriert immer noch auf den vollzeitbeschäftigten männlichen Ernährer, der als verlässliche Größe nicht mehr existiert, und vernebelt das Faktum, dass in den Hochpreisländern Vollbeschäftigung nicht mehr zu haben ist.

Die postindustrielle Gesellschaft hat uns allerdings die Industrialisiertheit der Lebensformen und -umstände hinterlassen. Wir leben im Schatten dieser Strukturen, die die öffentliche Verwaltung prägen: Standardisierung bis hin zu der Vereinheitlichung der Bedürfnisse als die immer gleiche Antwort auf Fragen nach Produktionsweisen, Gestalt der Produkte, Organisation menschlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten. Noch hallen die Versprechungen der Industriegesellschaft so nach, ist die Angst vor Verlust dieser Art von Arbeit so groß, dass das Verschwinden ihrer materiellen Basis, geschweige denn die mit dem Verschwinden einhergehenden Bevormundungen noch nicht in das Bewusstsein einer Mehrheit rücken konnten.

Wir leben in Zwischenzeiten: einerseits politische Großlösungen, die monoton, monothematisch und eher hilflos auf den unaufhaltsamen Verlust klassischer Erwerbsarbeit reagieren, andererseits eine erhebliche Zunahme von Arbeitsplätzen im kreativen Bereich, im Dritten Sektor, in NGOs, so dass wir gleichzeitig von einer ökonomischen und sozialen Basis einer Gesellschaft sprechen können, die mehr und anderes sucht als die Verwaltung ihres Mangels.

Es ist Zeit, die Pluralität aufzunehmen, die eine sich verändernde Gesellschaft im Positiven wie im Negativen schafft, ihre Chancen zu erkennen und ihnen zu entsprechen, die Möglichkeiten fortzusetzen, die das zum Vorschein Kommende bereithält, und sie zu gestalten und durchlässig zu machen für den erweiterten gesellschaftlichen Gebrauch. Der Großlösungen ebenso überdrüssig wie dem Nachweinen des Vergangenen, die Gerechtigkeitsdiskussionen so trocken wie falsch findend, schöpft eine Kulturgesellschaft aus den brach liegenden Potenzialen ihrer Mitglieder, beobachtet, denkt und erfindet Gesellschaft weiter. Gesellschaft lebt von Einmischung und zivilem Ungehorsam, von Modellen, Beispielen, die aus den sozialen und intellektuellen Versicherungssystemen ausbrechen. Die kulturellen Räume der bildenden Kunst und des Theaters, der Musik und der Literatur, der Universitäten und der anderen Einrichtungen des Forschens und Erprobens, auch der Schule, sind die traditionellen Orte der Vergegenwärtigung dessen, was war, ist und sein könnte. Und dabei muss es auch darum gehen, den künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs als ein Erkenntnisinstrument und Movens zur Veränderung im Hinblick auf den globalisierten Ökonomismus zu verstehen.

Der Entwurf der Kulturgesellschaft lässt sich von der Frage leiten, welche soziale und ökonomische Entwicklung wir im Land brauchen, die identitätsstiftend in die Gesellschaft hinein und über sie hinaus wirken kann; von der Frage, welche ökonomischen Strukturen lebendige Beziehungen zwischen den Menschen freigeben, den Beziehungen der Menschen zu ihren eigenen Bedürfnissen wie zu ihrer Phantasie, zwischen geschichtlichen Lebensformen und denen der Natur. Es geht um eine Kultur der Differenz in der Demokratie, um ihre aktive Weiterentwicklung und ein gemeinschaftliches Ringen um Freiheiten, die heute unter die Räder eines primär ökonomisch motivierten, kurzatmigen Pragmatismus geraten. Es geht darum, Lebenstätigkeiten zu ermöglichen, die eine Lebensqualität erzeugen, mit neuen Modellen gesellschaftlich und ökonomisch relevanter Tätigkeiten und der Schaffung neuer Arbeitsplätze im kreativen – also künstlerisch-wissenschaftlichen – Bereich, die zugleich auch eine Erweiterung des Kulturellen sein kann.

Handeln heißt anfangen können, oder, wie es Hannah Ahrendt formuliert hat: „Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln; sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sachen mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil: etwas Neues zu beginnen.“

Wir brauchen Umschichtungen hin zu Ressort und Disziplinen übergreifenden Töpfen bei den Arbeitsagenturen, Töpfe, auf die sich Arbeitsuchende mit einem Projekt bewerben können. In den Künsten und Wissenschaften sind damit viele Erfahrungen gesammelt worden, auch mit Auswahlkriterien, die leicht auf andere Bereiche zu erweitern wären.

Wir brauchen solche Projekttöpfe eiligst in den Schulverwaltungen, da wir offenkundig einen akuten Mangel an 10.000 Lehrerinnen in Deutschland haben und die Zahl der Lehramtsstudierenden beunruhigend sinkt. Gleichzeitig haben wir eine Fülle an gut ausgebildeten KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen mit ebenso vielen Ideen, die dadurch, dass sie nicht von institutionalisiertem Denken und Tun geprägt sind, ein anderes Lernen initiieren und begleiten können.

Dabei ist die Mehrzahl der KünstlerInnen an das unfreiwillig gewöhnt, was prekäre Arbeitsverhältnisse genannt wird, an Arbeitsformen, die dem klassischen Muster von Lohnarbeit nicht mehr entsprechen. Sie bilden die „Avantgarde“ einer Entwicklung, an die sich die Lebens- und Arbeitsweise von immer mehr Menschen in der Bevölkerung angleichen werden. Sie haben einen Erfahrungs- und Leidensvorsprung darin, Arbeit nicht nur eindimensional über den Erwerb zu denken, sondern andere (Selbst-)Beschäftigungsformen einzugehen. Die Gesellschaft als Ganze ist aber noch nicht auf das Verschwinden der herkömmlichen Arbeit vorbereitet. Deshalb wird es darauf ankommen, neue Modelle zu erfinden, die einen gesellschaftlichen Mehr- wert erzeugen, die Verbindungen und Kooperationen zwischen den noch voneinander abgegrenzten gesellschaftlichen Bereichen suchen und Mischformen generieren, die aus unterschiedlichen Denk- und Lebenswelten kommen, für die KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen Kompetenzen entwickelt haben.

Der Entwurf einer Kulturgesellschaft lädt ein, zu begreifen, dass andere Formen als die Lohnarbeit zur Bedingung gesellschaftlicher Anerkennung gemacht werden müssen. Er lädt dazu ein, die Arbeit als sinnvolle Tätigkeit zu retten, aber nicht alles, was nicht Erwerbsarbeit ist, als sinn- oder bedeutungslos oder als nicht vergütbar zu erachten. Sonst bleiben wir in den Strukturen einer überkommenen Arbeitsgesellschaft stecken.

Handeln heißt verändern können. Die gesellschaftsverändernden Bewegungen der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik sind immer auch aus einem Mangel entstanden, aus einem Mangel an Anerkennung, Beachtung, Gleichheit, Chancen und Gerechtigkeit. Aber auch die Kraft des Verändernden kann erstarren, wie die 68er-Generation lehrt; deshalb gehört das Ringen darum, Veränderndes lebendig zu halten, ebenso zum Entwurf der Kulturgesellschaft, wie die Grundsätze immer weiter auf ihre Beziehungen zu hinterfragen und durch heterogene Bewegungsformen Durchlässigkeiten zu ermöglichen.

Dazu gehört auch, wach zu halten, dass gerade die unterschiedlichen Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen, von kleinen Netzwerken zur Bekämpfung der unterschiedlichsten Formen von Diskriminierung, Benachteiligung und Unterdrückung wesentlich durch das Engagement von Frauen entstanden sind. Nicht dass dieses Engagement nicht auch Verkrustungen unterläge. Aber es ist und bleibt ein Verdienst von Frauen, ihre im erzwungen Privaten kultivierten Fähigkeiten ins Gesellschaftliche, ins Ökonomische und ins Politische getragen zu haben. Der Slogan „Das Private ist politisch“ meinte immer auch, eine ganzheitliche Sichtweise von Welt zu haben, das Öffentlichmachen von Konfliktpotenzial, um verfestigte Strukturen wieder zu verflüssigen und Verbindungen zwischen Getrenntem, Ressortiertem herzustellen.

Die Kulturgesellschaft, die sich als gestaltend versteht, kommt also einfach nicht ohne die Künste und Wissenschaften aus, von ihnen ist das Denken in Übergängen, Provisorien, Modellen und Projekten zu lernen. Damit sie aber ihre Möglichkeiten gesellschaftlich verbreitern können, brauchen sie ein Gegenüber in der Politik. Es ist möglich, dass sich bald ablesen lässt, dass in Projektzusammenhängen zu arbeiten die der heutigen Zeit angemessenere Form der Existenz ist, weil sie sich mit anderen Lebenstätigkeiten verbinden lässt und die kollektive Herausforderung darin besteht, andere Formen von Kontinuitäten zu (er)finden, andere Mischungsverhältnisse von Kontinuität und Wechsel. Ich glaube, diese kämen auch einem Schutzbedürfnis der Menschen entgegen, wenn ich das hier etwas unvermittelt sagen darf. Wir müssen Hochschulen, Schulen, Unternehmen und Verwaltungen für solche experimentellen Selbstverhältnisse öffnen, wir brauchen das Kultivieren von Durchlässigkeiten, Unterbrechungen, der immer wieder neuen Möglichkeit des sich anderen Erfahrungen Aussetzens. Ich gehe so weit zu sagen, anders kann man seinen Job auf Dauer auch nicht gut machen.