KOMMENTAR VON DOMINIC JOHNSON ZU DEM MUTMASSLICHEN CHEMIEWAFFENEINSATZ IN SYRIEN
: Die „rote Linie“ vor Augen

Die UN-Inspektoren müssen jetzt komplette Bewegungsfreiheit bekommen

Plötzlich wird das Unvorstellbare vorstellbar. Restlos bewiesen sind die jüngsten Berichte zwar bislang nicht, wonach Syriens Armee jetzt in großem Stil Chemiewaffen gegen Zivilisten in Dörfern im Umland der Hauptstadt Damaskus eingesetzt und dabei Hunderte von Menschen getötet haben soll. Aber das vorliegende Foto- und Videomaterial ist eindrücklich und beklemmend und lässt keine grundsätzlichen Zweifel daran zu, dass ein selbst für syrische Verhältnisse außergewöhnliches Massaker verübt worden ist.

Der syrische Krieg hat bereits über 100.000 Tote gefordert, doch ein solches Kriegsverbrechen stellt die Weltgemeinschaft vor neue Herausforderungen. US-Präsident Barack Obama hatte einst den Einsatz von Chemiewaffen gegen die syrische Zivilbevölkerung als „rote Linie“ definiert, deren Überschreiten eine Intervention nach sich ziehen müsse.

Das Kalkül des syrischen Diktators indessen scheint simpel zu sein: Nachdem erst vor einer Woche Ägyptens Armee vor laufenden Kameras ungestraft mitten in der Hauptstadt Hunderte von Demonstranten massakrieren konnte, braucht sich Syriens Regime ja wohl keine Sorgen zu machen, wenn es nach über zwei Jahren Bürgerkrieg ein paar Dörfer vergast. Die international hingenommene ägyptische Konterrevolution gibt Gewaltherrschern in der gesamten Region freie Hand, und in Syrien gehen sie dabei schon lange bis zum Äußersten.

Allerdings kommen die Berichte aus Syrien nur wenige Tage nach dem Eintreffen der UN-Inspektoren, die früheren Hinweisen auf Giftgaseinsätze nachgehen sollen. Die UNO ist jetzt brüskiert und muss schnell und unmissverständlich reagieren. Die Inspekteure müssen die Vorwürfe unabhängig untersuchen können. Dazu benötigen sie freien Zugang zu den Kampfgebieten und komplette Bewegungsfreiheit sowie die Möglichkeit, Zeugen ohne staatliche Dolmetscher und Bewacher zu befragen.

Syriens Regierung hat dies zunächst unter fadenscheinigen Begründungen abgelehnt – ein Indiz dafür, dass Assad tatsächlich etwas zu verbergen hat. Jetzt ist der UN-Sicherheitsrat am Zug. Nicht wegen des Leids der syrischen Bevölkerung, wohl aber zur Rettung der Glaubwürdigkeit der Weltgemeinschaft könnte sich der Horror aus den Dörfern bei Damaskus für den Westen doch noch als die „rote Linie“ erweisen, die ein aktiveres Eingreifen erzwingt.