: Produktive Überforderung
Fotografie, Video, Film, Oper – und dazu noch ein Symposium zum kulturellen Gedächtnis: Das Veranstaltungsprogramm „China – Zwischen Vergangenheit und Zukunft“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt hat sich viel vorgenommen
von ULRIKE MÜNTER
Der Blick in das Veranstaltungsprogramm des Festivals „China – Zwischen Vergangenheit und Zukunft“, das heute beginnt, lässt keinen Zweifel: Das Haus der Kulturen der Welt will die chinesische Gegenwartskunst vom Sockel des Exotischen stoßen. Bis Mitte Mai zeigt eine Ausstellung aktuelle Foto- und Videoarbeiten chinesischer Künstler; ein großes Filmprogramm, Performances, Opernaufführungen, Lesungen und Gesprächsrunden dokumentieren und problematisieren die rasanten Veränderungen im Reich der Mitte. Entsprechend fragt ein internationales Symposium zum Thema „Kulturelles Gedächtnis“ denn auch nach den Formen des Erinnerns in China und Europa.
Das Haus der Kulturen hat eine lange Tradition, was die Vermittlung zwischen chinesischer und westlicher Kultur angeht. Die 1993 gezeigte Ausstellung „China Avantgarde“ bezog sich unmissverständlich auf die erste öffentlich genehmigte Präsentation chinesischer Gegenwartskunst in Peking. Die wurde unter dem Titel China/Avant-Garde am 5. Februar 1989 in Chinas Hauptstadt eröffnet, doch die Behörden unterbrachen gleich zweimal den Ausstellungsbetrieb und nahmen Künstler wegen provokativer Performances kurzzeitig fest. Auch bei der gewaltsam niedergeschlagenen Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 waren Künstler des ganzen Landes vertreten und marschierten unter dem Banner des von der Avant-Garde-Ausstellung als Titelplakat gebrauchten Straßenschildes „Wenden verboten“. „Der Titel der Berliner Ausstellung“, so erinnert sich Andreas Schmid, einer der Kuratoren von China Avantgarde, „artikulierte einerseits unsere Solidarität mit den chinesischen Künstlern, andererseits wollten wir aber auch die Zeit zwischen 1989 und 1993 in der Auswahl der in Berlin gezeigten Künstler berücksichtigen – deshalb die andere Schreibweise. Heute hat die Ausstellung schon wieder kunsthistorischen Charakter. Das Medium der Fotografie zum Beispiel befand sich damals noch in einem eher experimentellen Stadium.“
Dass 30 Jahre nach der Kulturrevolution und dem Tode Mao Tse-tungs erneut einen Meilenstein im deutsch-chinesischen Kulturdialog gesetzt werden soll, belegt nicht zuletzt das dreitägige Symposium am Eröffnungswochenende des Festivals, das sich dem Thema „Kulturelles Gedächtnis“ widmet. Chinesische und deutsche Vertreter aus Wissenschaft, Journalismus und Kultur stellen ihre Perspektiven auf die historisch bedingt sehr unterschiedlichen Strategien des Erinnerns vor. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und die Kunsthistorikerin Leng Lin beschäftigen sich mit dem „kollektiven und sozialen Gedächtnis“, während in einem anderen Panel drei chinesische Künstler erläutern, wie persönliche Erinnerungen im Zusammenhang mit Chinas Vergangenheit ihre künstlerische Praxis beeinflussen. Was der Verlust von Orten und Kulturgütern in der Kulturevolution für das nationale Gedächtnis bedeutet, wird unter dem Titel „Trauma, Amnesie und Anamnesis“ vom Sozialpsychologen Harald Welzer, der Ostasienwissenschaftlerin Nora Sausmikat und dem Kurator Zhuo Jing diskutiert. Einen Gast aus Frankreich hätte man gerne mit von der Partie gewusst: den Sinologen François Jullien, der mit seinen Publikationen wie „Der Umweg über China“ und „Über das Fade“ seit Anfang der 90er-Jahre den Westen zu einem „Ortswechsel des Denkens“ auffordert.
Wer als China-Tourist den Besuch einer Peking-Oper plant, dem wird der abstrakte Begriff der Fremdheit zu einem körperlichen wie ästhetischen Erlebnis. Denn was er hört, hat nichts mit den uns vertrauten Klängen zu tun. Und was er sieht, versteht er nicht. Überlieferte Kodierungen markieren jeden Ton, jede Bewegung, jedes Detail der Kostüme und der maskenhaft geschminkten Gesichter.
Diese zu entschlüsseln, bemühen sich Einführungsveranstaltungen und Diskussionen, die das beeindruckend vielseitige Programm an Inszenierungen begleiten, das der Bereichsleiter für Musik und Performing Arts am Haus der Kulturen der Welt, Johannes Odenthal, und die Kuratorin Tian Mansha in Zusammenarbeit mit der Komischen Oper nach Berlin geholt haben. Sieben Auftragsproduktionen stehen exemplarisch für eine umfassende Erneuerung und Neubestimmung der Musiktheatertraditionen Chinas. Jenseits der Schau- und Hörlust soll auch das Verstehen des Fremden ermöglicht werden. Denn es gehe um viel mehr als spontane Regungen wie Gefallen oder Missfallen am Ende der Begegnung mit der Chinesischen Oper, das macht Odenthal mit Nachdruck deutlich: „Nicht nur durch die Revolutionen, sondern auch durch die Kolonialzeit und den intensiven Austausch mit internationalen Künstlern ist Chinas Musiktheater zu einer Plattform ästhetischer, aber vor allem auch kultureller und politischer Ideologien geworden. Künstler und Künstlerinnen wie Tian Mansha stehen für eine zeitgenössische Sprache, die dieses überwältigend lebendige Erbe in die Zukunft führt.“
Vergegenwärtigt man sich die Geschichte des symphonischen Dramas „Mei Lanfang“, weichen auch die letzten Befürchtungen, dass es sich dabei um eine museale Darbietung handelt. Die Ende April in der Komischen Oper aufgeführte Komposition Zhu Shaoyus erzählt eben keinen überlieferten Stoff, sondern setzt das Leben einer legendären Gestalt der chinesischen Oper, Mei Lanfangs, in Szene.
1894 in eine berühmten Operndarstellerfamilie geboren, stand Mei bereits als Zwölfjähriger auf der Bühne. Neben Passagen aus seinen Lieblingsrollen sind auch die traumatisierenden Ereignisse während der japanischen Besatzungszeit integrativer Teil des Dramas. Im dritten Akt wird gar eines der grausamsten Kapitel chinesischer Geschichte thematisiert: das Nanjing-Massaker von 1937. Am Ende bleibt Mei, der sich weigerte, mit den Japanern zusammenzuarbeiten, nur der Weg in den Freitod. Auf das Experiment Zhu Shaoyus, die Partitur mit seinen Instrumentalisten sowie den Musikern und Solisten der Komischen Oper einzustudieren, darf man gespannt sein. Die Kommunikation zwischen westlicher und östlicher Kultur wird hier nicht nur propagiert, sondern in die Tat umgesetzt.
Noch immer gibt es Tabuthemen in der chinesischen Kunst. Die Künstler des Landes sind vielleicht gerade deshalb besonders geübt darin, Kritik nicht direkt, sondern über spielerische Umwege zu üben. Als politische Phantasmagorie inszeniert Liu Sola mit „Fantasy of the Red Queen“ das Leben der machthungrigen und skrupellosen vierten Frau Maos, Jiang Qing. Mit modernster Bühnentechnik und in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern lässt Liu die Grenzen zwischen der Zeit der Kulturrevolution und der mediendominierten Gegenwart verschwimmen. Nicht aber Jiang Qing selbst tritt auf, sondern eine wahnsinnige alte Frau, die der Illusion erliegt, Maos Gattin zu sein. Politik wird als Wahngebilde präsentiert. Man versteht den Schachzug. Die Uraufführung findet Mitte Mai im Haus der Kulturen statt. Wie auch die anderen Opern soll „Fantasy of the Red Queen“ später in China gezeigt werden.
Mit 90 Arbeiten von 48 Künstlern ist die von Wu Hung und Christopher Philipps kuratierte Ausstellung „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Neue Fotografie und Video aus China“ eine der umfangreichsten Präsentationen, die es bisher zu diesen künstlerischen Medien gab. Die in vier Sektionen aufgeteilte Ausstellung zeigt unter den Motti „Geschichte und Gedächtnis“, „Inszenierungen des Selbst“, „Wieder-Erfinden des Körpers“ und „Menschen und Räume“ Arbeiten, die in den letzten zehn Jahren in China entstanden und somit fast zwangsläufig die radikalen gesellschaftlichen Umbrüche dokumentieren und darauf reagieren.
Die Auswahl selbst als Schau der „innovativsten chinesischen Foto- und Videoarbeiten“ zu küren, stimmt allerdings etwas unwillig und schärft den kritischen Blick. Auch die von Juni bis Oktober 2005 in Bern gezeigte Sammlung des Schweizers Uli Sigg stellte mit ihren 180 Künstlern nicht zuletzt wichtige Positionen aus dem Bereich Fotografie und Video vor. Von Künstlern wie Miao Xiaochun, der zu den Meistern der digital bearbeiteten Fotografie gehört, sieht man in Berlin lediglich eine mit „Opera“ betitelte Zoobesucher-Szene. Als Einzelarbeit einer Fotoserie gezeigt, fällt sein Alter Ego, die Kunstfigur eines klassischen Gelehrten, hier kaum auf.
In Bern sah man zumindest zwei der schwarzweißen früheren Arbeiten Miaos, in denen der Gelehrte zumal noch als Einzelgänger im Mittelpunkt des Bildes stand. Hier wäre mehr auch einmal besser gewesen, wird doch die Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart in diesen Arbeiten explizit angesprochen. Leider fehlen auch die „Assembly Halls“ von Shao Yinong und Muchen. Zwischen 2002 und 2004 reiste das Künstlerduo durch China und fotografierte Versammlungsräume aus der Zeit der Kulturrevolution, die heute als Restaurant oder auch als Tempel fungieren und stumme Chronisten des rasanten gesellschaftlichen Wandels sind. Dennoch – die enorme Leistung dieser Ausstellung soll mit diesen Anmerkungen nicht in Frage gestellt werden.
Bis 14. Mai, Infos unter www.hkw.de