: Ein Arzt für alle Fälle
AUS ESSEN GESA SCHÖLGENS
Abgesehen von ihrer Blässe sieht sie gesund aus. Bis sie den Ärmel von ihrem dünnen Pulli hochschiebt. Die blutrote Wunde am Oberarm ist tief, größer als eine Faust und eitrig. Die junge Frau verzieht vor Schmerz das Gesicht, als die Arzthelferin die Stelle behutsam mit einem Wattebausch reinigt. Der Arzt Bernward Fuhrmann mustert den zerstörten Arm, die gebräunte Stirn in Falten gelegt. „Das sieht aus, als hätten Sie wieder da rein gespritzt“, sagt er ernst. Die Patientin schüttelt energisch den Kopf: „Hab ich nicht.“ Der Arzt beharrt: „Sie müssen ins Krankenhaus und operiert werden.“ Mit einer Einweisung in der Hand verlässt die 29-Jährige den Krankenwagen. „Ich hole mir noch einen Jogginganzug aus der Kleiderkammer, und dann gehe ich sofort in die Klinik“, verspricht sie zum Abschied.
„Das wird mich wieder die ganze Woche beschäftigen. Sie müsste nach der OP raus aus der Drogenszene und eine Langzeittherapie machen“, seufzt Bernward Fuhrmann. An diesem Vormittag stehen er und seine Arzthelferin Anna Boeckhorst mit dem Arzt-Mobil vor dem Sozialzentrum Maxstraße in Essen. In einem umgebauten blauen Rettungswagen behandeln sie kostenlos Wohnungslose, Abhängige und psychisch Kranke.
„Die meisten von ihnen haben Hemmungen, zu einem normalen Arzt zu gehen“, sagt Fuhrmann, während er seine Plastikhandschuhe wechselt. Wenn sie es bis in eine „normale“ Praxis schafften, falle es ihnen schwer zu warten und die Blicke der anderen Patienten auszuhalten, so der 45-Jährige. Auch Scham spiele dabei eine Rolle. Einige seien nicht krankenversichert und viele könnten die Praxisgebühr nicht zahlen. Im Arzt-Mobil spiele all das keine Rolle. „Wir behandeln jeden, auf Wunsch auch anonym, und bieten ihm einen Schutzraum.“
Viel Platz ist nicht in der rollenden Praxis. Eine Liege mit einer Einmal-Unterlage aus Plastik füllt den Raum fast aus, daneben befindet sich ein Klappsitz aus hellem, abwischbarem Leder. Außerdem gibt es einen kleinen Tresen für Fuhrmanns Laptop und Schreibutensilien. In diversen Schubladen und Kästen sind Reserve-Arzneien, Spritzen, EKG, Blutdruckmessgerät und Verbandsmittel untergebracht. Für alle Fälle gibt es Mineralwasser und frische Unterwäsche. Es riecht leicht nach Desinfektionsmittel. An einer der weißen Wände hängen Postkarten mit holländischen Windmühlen.
„Transportieren dürfen wir die Patienten nicht“, erklärt Fuhrmann. „Bei Notfällen wird ein Krankenwagen bestellt.“ Ansonsten gebe es inzwischen gute Kontakte zu niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern. Der gelernte Internist und praktische Arzt ist seit sechs Jahren dabei. Kontinuität sei sehr wichtig, um das Vertrauen der Patienten zu erlangen, sagt er. Erstkontakte zu den Patienten liefen auch häufig über die Zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose, Suchtberatungsstellen, die Bahnhofsmission oder Notschlafstellen für Obdachlose.
Fuhrmann selbst kam zufällig zum Arzt-Mobil: „Ich war kurzzeitig arbeitslos und bekam die Stelle vom Arbeitsamt vermittelt.“ Es sei kein Traumjob, aber eine wichtige Aufgabe. „Die Arbeit ist nicht einfach und die wenigsten Ärzte wollen es tun“, meint Fuhrmann. Für ihn sei es allerdings eine „klassische medizinische Aufgabe“, unterversorgte Menschen zu behandeln.
Das hat jetzt auch die Landesregierung eingesehen und deswegen ein bundesweit einmaliges Finanzierungskonzept gestartet. Gesetzliche Krankenkassen, kassenärztliche Vereinigungen und die kommunalen Spitzenverbände tragen demnächst die Kosten der „aufsuchenden Gesundheitsfürsorge“ gemeinsam. „Das hat den Vorteil, dass es bald eine flächendeckende Versorgung geben wird“, sagt Fuhrmann. Bislang gibt es solche Gesundheitsangebote nämlich nur in einzelnen Städten; finanziert werden sie entweder komplett über Spenden oder durch die Kommune, die örtlichen Krankenkassen und die Ärztevereinigung. Ein weiterer Vorteil der neuen Regelung ist, dass damit auch das Problem mit der Praxisgebühr wegfällt. Die müssen die Arzt-Mobile bisher wie jeder Arzt mit den Kassen abrechnen. Dafür hat das Essener Arzt-Mobil allein in 2005 2.900 Euro benötigt.
Der nächste Patient kommt herein. „Ich trinke ganz viel Bier, da ist Vitamin B drin, und das ist gut für meine Entzündung“, behauptet ein älterer Wohnungsloser und setzt sich auf den Klappstuhl im Krankenwagen. Er hat eine fast verheilte Verbrühung an der Hand. Arzthelferin Anne Boeckhorst wirft ihm einen betont strengen Blick zu, während sie den verschmutzten Verband abwickelt und die Wunde frisch verbindet. Anschließend horcht Fuhrmann den Alten mit einem Stethoskop ab und leuchtet mit einer Lampe in seinen Hals. „Ihre Lunge hört sich schon wieder ganz gut an“, lobt er. „Ja“, brummt der Mann, „das Antibiotikum hat mir geholfen. Ich kann endlich wieder durchschlafen und rauche kaum noch.“ Noch ein wenig kurzatmig verlässt er den Krankenwagen, in der Hand eine Plastiktüte mit seinem ganzen Hab und Gut.
Auch andere Patienten sind zufrieden mit ihrem Doktor. „Seit 2004 komme ich hierher“, erzählt Cornelia Meier*, die durch ihre Drogensucht eine schwere Thrombose bekam und an Hepatitis C erkrankte. Fuhrmann habe einen guten Ruf in der Szene, „er kann gut Blut abnehmen und verschreibt nicht blindlings irgendwelche Medikamente.“ Im Krankenhaus hätten die Ärzte ihre Tabletten-Einstellung total durcheinander gebracht. „Die kennen sich auch nicht so gut aus mit meiner Betäubungsmittelabhängigkeit“, glaubt die 41-jährige. Im Arzt-Mobil könne sie auch mal ihr Herz ausschütten, „und der Doktor staucht mich zusammen, wenn es nötig ist“, sagt Cornelia Meier und grinst.
Heute braucht sie ein Rezept für eine neue Thrombosestrumpfhose und eine Überweisung in die Ambulanz für Patienten mit Aufmerksamkeits-Defizit-Störungen. „Das Geld für die Praxisgebühr habe ich mir jetzt zusammengeschnorrt, tut mir leid, dass ich letztes Mal nicht bezahlen konnte“, murmelt sie kleinlaut und holt zwei zerknitterte Geldscheine aus der Tasche. „Sie gefallen mir diesmal schon viel besser, sie sind viel ruhiger geworden und sprechen nicht mehr so undeutlich“, sagt Fuhrmann beim Abschied und drückt ihr das Rezept in die Hand. „Kommen Sie morgen noch einmal zum Blutabnehmen vorbei.“
Wieder ein kleines Erfolgserlebnis für Fuhrmanns fahrende Praxis. Zumindest der allgemeine Gesundheitszustand seiner Patienten habe sich verbessert. „Es gibt zum Beispiel keine Fälle mehr, wo Wunden mit Maden belegt sind.“ Die Rückkehr der Patienten ins reguläre Gesundheitssystem gelinge aber nicht immer und sei schwierig nachzuweisen, sagt Fuhrmann. „Wenn die Leute nicht wiederkommen, dann werte ich das als Erfolg.“ Vielleicht hätten sie dann endlich eine Wohnung. Vielleicht seien sie aber auch nur in eine andere Stadt gezogen oder im Gefängnis gelandet. „Definitiv wissen wir es nicht. Das ist manchmal schon frustrierend.“
*Name geändert