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Archiv-Artikel

ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL Wie ich Stanislaw Lem verlor

In unserer Wohnzimmerwand klafft ein Loch: Da stand der polnische Science-Fiction-Autor

Seit einem knappen Jahr haben wir in unserem Wohnzimmer ein Loch in der Wand. Der Mörtel und die weiß getünchte Raufaser darüber sind noch da, aber die Bücher davor fehlen. Und da die ganze Wand voller Bücher ist, wirkt es tatsächlich wie ein Loch. Gäste fragen uns, warum ausgerechnet diese Stelle im Regal leer bliebe. Dann sagen wir immer: „Da sammeln wir Stanislaw Lem“. Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen.

– „Lass uns nach Krakau fahren und Stanislaw Lem interviewen“, sagte ein Kollege eines Tages in der Redaktion.

– „Hervorragend, gerne!“, antwortete ich. „Haben wir schon einen Termin?“

– „Ich warte noch auf seine Zusage“, meinte der Kollege, „aber vielleicht kannst du mir ein paar Bücher von ihm mitbringen? Zur Vorbereitung.“

Das konnte ich. Denn von dem polnischen Science-Fiction Autor haben – also hatten – wir zu Hause fast einen halben Meter. Lem ist ein dankbares Sammelgebiet: Seine Bücher erschienen in Ost wie West, und es ist sehr interessant, wie der gleiche Roboter aus dem 26sten Jahrhundert in der DDR, der BRD und in der Sowjetunion ganz anders aussah. Bei Lem gibt es außerdem jede Menge schöne Sätze, die Intellektuelle prima als Entschuldigung für Versagen beim Installieren von DSL („Unerhört schnelle Systeme begehen unerhört schnell Fehler“) oder W-LAN („Ich fürchte das Internet“) anführen können.

Mit beiden Händen ergriff ich also die Bücher und die Gelegenheit, Eindruck zu schinden, und brachte meinem Kollegen eine ganze Stofftasche Lem in die Redaktion.

– „Such dir etwas aus“.

– „Danke“ sagte er und nahm die ganze Tasche.

Nach zwei Wochen erkundigte ich mich nach unserem Interviewtermin.

Lem habe leider abgesagt, bedauerte mein Kollege. Ob er wohl trotzdem noch ein wenig in den Büchern lesen könne?

Nach zwei Monaten entschuldigte sich mein Kollege, er habe sich festgelesen.

Nach drei Monaten gab er an, er habe die Tasche mit den Büchern zu Hause vergessen.

Nach einem halben Jahr schrieb ich ihm eine ironische E-Mail, in der ich ihn im Stil einer Bibliotheksmitteilung („Lieber Nutzer“) aufforderte, die Bücher zurückzubringen. Er beantragte elektronisch Verlängerung.

– „Vielleicht hat er die Tasche verlegt, und es ist ihm peinlich“, erklärte ich meiner zunehmend ungeduldigen Freundin ratlos: „Oder er hat Kaffee drübergeschüttet. Oder die Bücher sind seiner Katze unter die Krallen geraten.“ Aber sie will nicht länger an Zufälle glauben:

– „Im Fernsehen habe ich einmal einen Bericht über Menschen gesehen, denen es körperliche Schmerzen verursacht, entliehene Gegenstände zurückzugeben. Das ist aber therapierbar. Wir müssen ihm helfen.“

Es gab nur ein Mittel: Auch wir mussten etwas, was er liebt, in unsere Gewalt bringen. Dann könnten wir tauschen. Da der Kollege kinderlos ist, dachten wir daran, seine Katze zu entführen.

Aber er muss den Braten gerochen haben! Er hat sich extra aus der Redaktion wegbefördern lassen und verließ sogar die Stadt! Jetzt ist er Koordinator der Lokalteile. Das ist ein Job, über den ungefähr so viel bekannt ist wie über den Koordinator der Geheimdienste im Bundeskanzleramt. Beide sind wohl viel unterwegs im Land.

Wir nicht.

Wir sitzen zu Hause mit unserem Loch. Ich habe einmal eine Blumenvase reingestellt, aber meine Freundin hat sie erbost wieder herausgenommen. Ab und an gibt sie bei Ebay noch „Lem“ ein oder vergleicht die Tarife von Privatdetekteien.

Ich hingegen habe die Hoffnung fahren lassen, die Bücher jemals wiederzubekommen. Aber das macht nichts. Es gibt Dinge, die muss man aufgeben, damit sie ihre Wirkung entfalten können.

Unsere Sammlung gehört dazu: Weil jeder, wirklich jeder Besucher nach dem Loch in der Bücherwand fragt, reden wir jetzt ständig über Stanislaw Lem.

Fragen zu Lem? kolumne@taz.de MONTAG: Stefan Kuzmany ist GONZO