: Das Kraut und der Koch
NATÜR Jean-Marie Dumaine ist Wildkräuterkoch. Sein Garten Eden ist für andere eine Wiese voll Unkraut
AUS SINZIG WALTRAUD SCHWAB
Wenn Miraculix, jener Wunderkoch, der für Asterix und Obelix den Zaubertrank mixte, Nachfahren im Geist hat, ist einer von ihnen in Sinzig gelandet. Am Rhein liegt die Kleinstadt, zwischen Koblenz und Bonn. Jean-Marie Dumaine heißt der Spross. Ob er tatsächlich Abkömmling eines Druiden ist – wer kann das sagen. In die Wälder jedenfalls zieht es Dumaine. Dort sucht er Beeren, Pilze, Wurzeln, Kräuter und kocht Delikatessen daraus. Mehrfach ausgezeichnet wurde er für seine Wildkräuterküche. Im „Gault Millau“, dem Restaurantführer, hat er 16 Punkte. 20 Punkte sind das Höchste. Sie werden nie vergeben, weil, so die Tester, nur Gott Vollkommenheit schafft.
Als Dumaine auf einer seiner Kräuterwanderungen im März eine Handvoll Leute mitnimmt und ihnen die Natur erklärt, betont er seine Herkunft nicht ohne Stolz: „Wir sind Gallier, wir sind Sammler und Jäger.“ Mit „wir“ meint er auch seine Frau Colette. Aus der Normandie kommen die zwei. Am äußersten Zipfel zur Bretagne liegt ihr Dorf und damit nicht weit von dort, wo Miraculix, der Gallier, seiner Kochkunst frönte. Gallier sind Kelten.
„Sinzig ist auch eine keltische Siedlung“, sagt Dumaine. Vor 33 Jahren hat es ihn in den rheinischen Ort verschlagen, obwohl er eigentlich die Welt sehen wollte. Er sagt es, während er mit seinem Korb im Arm rückwärts vor seiner Schar Zuhörer herläuft und dabei über Maulwurfshügel stolpert, aber nicht fällt.
Das mit dem keltischen Ursprung von Sinzig ist historisch umstritten. Immerhin erklärt es aus Dumaines Sicht, warum es ihn an diesen Ort zog, dem andere Städtchen am Rhein leicht den Rang ablaufen.
An einer Straßenkreuzung vor der alten Stadtmauer hat Dumaine, der Koch, ein Restaurant. „Vieux Sinzig“ – Alt-Sinzig – heißt es. Aber die Worte stimmen nur halb. Er ist kein Koch, vielmehr ein Schöpfungsgenießer, ein Speisenkomponist, ein Essensinterpret. Er macht Rückführungen in den Geschmack der Natur. Wie sonst soll man einen nennen, der Dinge kreiert wie: Frénette-Eschen-Wein, Sauerklee-Espuma, Schlüsselblumen-Mayonnaise, Akazienblüten-beurre-blanc, Salbei-Gamander-Aperitif, Pfifferling-Suppe mit Muscheln und Natternkopf? Und das Vieux-Sinzig mit seinem Kräutergarten im Innenhof ist auch nicht nur ein Restaurant, sondern ein Ort, an dem Dumaine seine Kunst zelebriert. In der Wildkräuterküche ist Maître Dumaine Nummer eins. Fast 400 Wildkräuter verwendet er. Niemand hat so ein Repertoire. Unkräuter würde er sie niemals nennen.
Dumaine ist ein großzügiger Mensch. Was er mit seinen Gästen teilt: das Wissen um die Freigiebigkeit der Natur. Er spricht es wie „Natür“ aus, als wäre da schon im Wort eine Tür, die er öffnen kann für seine Besucher und Besucherinnen. Die führt Dumaine – einen verbeulten Strohhut auf dem Kopf – die Ahr entlang. Der Fluss fließt bei Sinzig in den Rhein.
Die Führung des Kochs wird zur Verführung. „Der Frühling kommt“, frohlockt er und hält unter einem Baum an. „Wie heißt er?“ Weil noch keine Blätter dran sind, weiß niemand eine Antwort. Eine Linde ist es. Er will, dass alle deren Knospen probieren. „Wie schmecken sie?“ Es dauert eine Weile, bis die ersten Vergleiche kommen: wie Schnecken, so glitschig im Mund. „Gucken Sie, wie viele Knospen dran sind an der Linde“, sagt Dumaine, „ein Universum. Wir tun die in eine Frühlingssuppe. Wir verbacken sie im Brot.“ Wenn er über Essen spricht, schürzt er den Mund, zieht die Nase nach oben, als könne er Duft und Geschmack des Gerichts wittern.
Ein umgekehrter Himmel
Danach sollen die Knospen von Brombeersträuchern gekostet werden. Ihr Geschmack? „Nach Marzipan, nach Pistazien“, sagt jemand. Und er: „Wenn es nach Pistazien schmeckt, dann mache ich ein Pistazieneis daraus.“ In ein paar Wochen wird er die jungen Brombeertriebe übrigens wie Spargel verarbeiten. „Die Natür ist ein Tresor. Man braucht nur den Schlüssel.“
Die Ahr bietet noch keine landschaftlichen Reize, weil eine Getränkefirma ihre Flaschen bis fast ans Ufer lagert, aber Dumaine ist schon im Garten Eden. „Die Kräuter zu unseren Füßen, die sind ein umgekehrter Himmel“, sagt er. Sein Gang ist nach vorne gebeugt. „Wir kennen die Milchstraße, aber was unter unseren Füßen ist, das kennen wir nicht.“ Er reißt an abgestorbenem Johanniskrautgeäst und zieht frische Blätter am Wurzelstock unter dem toten Herbstlaub hervor. Aus Johanniskraut macht er eine rosa Mayonnaise. Denn „Kochen ist nicht nur Würzen. Kochen ist auch mit Farben und Formen arbeiten.“ Den Geschmack müsse man auf dem Teller auch kommunizieren. Dann findet er weitere Kräuter und schwärmt von Brennnesseln, „ein Hochgenuss“, vom von allen Gärtnern gehassten Giersch, „der Spinat der römischen Legionäre“, von Wassermiere, Taubnessel, Wiesenschnittlauch – alles so winzig. Selbst Blattläuse seien essbar, meint Dumaine. Süßlich wie Kaviar schmeckten sie.
Dann ist Moos dran. Es wird probiert. Nach einigem Kauen meint einer: „Wie Seetang, wie Muscheln.“ Dumaine ist entzückt: „Wir sind weit weg vom Meer. Trotzdem schmeckt es danach.“ Sein Tipp: „Mit Scher sauber schneiden und mit Sahn mischen, dann denken Sie, es ist Austernmus.“ Wenn die Begeisterung ihn wegträgt, verschluckt er das e am Ende der Wörter.
Plötzlich kämpft er sich einen Weg durch vertrocknetes, drei Meter hohes Dickicht am Ufer. Mit hohl schlagendem Geräusch knicken die rohrdicken Stecken um: Japanischer Knöterich ist es. Eine invasive Art, die einheimische Pflanzen verdrängt. Dumaines Lösung: verkochen. Rheinrhabarber nennt er es. Bald sprießt er wieder. Bis dahin verwertet er das letztjährige, faustdicke Rohr. Er schneidet eins ab. Weil die Stecken gegliederte Hohlräume haben, bastelt er eine Blumenvase daraus. Auch plädiert er dafür, die aufgeschnittenen Stängel als Einwegschälchen bei Partys zu benutzen. „Das ist edel, das ist Natür.“
Einmal, so erzählt er auf dem Weg zwischen Springschaumkraut und Nelkenwurz, wollte er für den Papst kochen, als dieser Deutschland besuchte. „Pflanzen aus der Schöpfung, die noch kein Sünder berührt hat. Die nicht genetisch verändert wurden. Mit weißen Handschuhen gepflückt.“
Bevor es zurück geht zum Vieux-Sinzig, wird noch der Walnussbaum gepriesen. Unreif erntet er die Nüsse, wässert sie und legt sie in Rotweinsirup ein. Heraus kommt etwas, das aussieht wie eine schwarze, nach Bitterschokolade schmeckende Pflaume. Später, beim Essen, kredenzt er den Gästen welche auf Eis. Denn natürlich wird gespeist nach der Führung. Mehrgängig bis in die Nacht. Wildschweinfleisch ist auch dabei. Dumaines Team hat gekocht. Er hat 18 Angestellte. Eine Frau ist alleine fürs Sammeln der Kräuter da. Arbeitsaufwändiges Slowfood – aus Sicht von Unternehmensberatern macht Dumaine alles falsch.
In der Küche war es warm
Der Maître ist bekannt in Sinzig. Der bekannteste Zeitgenosse neben dem Orgelkomponisten Peter Bares sei er, sagt ein Mitarbeiter im Rathaus. Außerdem sei der Gartenarchitekt Peter Joseph Lenné, der an den preußischen Hof berufen wurde und den Park Sanssouci in Potsdam gestaltete, Sinzig verbunden. Er entwarf die Anlagen im Schlosspark am Ort. Kochkunst, Gartenkunst, Orgelmusik – das ist Kultur für alle.
Dumaine, der nichts Elitäres an sich hat, passt dazu. Als Ältestes von zehn Bauernkindern sollte er dem Vater auf den Feldern helfen. „Da war es mir zu kalt.“ Ihn zog es zur Mütter in die Küche. „Kochen für eine so große Familie. Olala. Da wurde ja noch alles selbst gemacht. Das Gemüse angebaut, Geflügel gezüchtet.“ Später schafft er es, Koch zu werden. Nur die Welt sieht er nicht. „Ich wollte nach Tahiti. Nach Dschibuti.“ Deshalb möchte er den Militärdienst bei der Marine machen. Leider fehlte dem Admiral in Brest gerade ein Koch – und er blieb an Land. Nach dem Militär zog es ihn zumindest über die Grenze zum Erfahrungensammeln. „Mit zwei leeren Koffern kam ich in Sinzig an.“ Seit dreißig Jahren ist er jetzt selbständig dort.
Und wie ist er zum Wildkräuterkoch geworden? Auch er wurde bei einer Kräuterführung verführt. Nur war er leicht zu verführen, denn die Uniformität des Geschmacks passte ihm nicht. Mit der Massenproduktion in der Landwirtschaft seien die Nahrungsmittel milder geworden. „Der Urgeschmack ist weg. Nennen Sie mir bittere Dinge außer Grapefruit, Kaffee und Bier.“ Er möchte die Massenproduktion nicht kritisieren, sie habe den Wohlstand gebracht, aber der Geschmack hätte nicht auf der Strecke bleiben müssen. Wildkräuter sind für ihn ein Ausweg. Dass sie bitterer sind und zeitaufwändig, diese Herausforderung nimmt er an. „Wir kochen alle mit Wasser und Feuer“, sagt er, „aber in der Komposition bin ich frei.“