: „Tschernobyl wird verharmlost“
INTERVIEW: CHRISTOPH SCHURIAN
Frau Claußen, haben Sie den Film, „Am Tag als Bobby Ewing starb“ gesehen?
Angelika Claußen: Nein.
Der kreist um Tschernobyl, denn zeitgleich starb Bobby Ewing in der TV-Serie Dallas. Der Film handelt von einer Landkommune, Atomkraftgegnern...
Das kenne ich gut: Ich habe mich Mitte der 1970er Jahre der Antiatombewegung angeschlossen.
Warum Atomkraft?
Angefangen habe ich in der Friedensbewegung. Dann besuchte ich mit einer Freundin eine Landkommune in Dänemark, habe ihr Windradprojekt gesehen. Ich fand toll, dass es ein Alternative gibt. Dass es überflüssig ist, aus Atom Strom zu machen.
Die Filmkommune stellt auch ein Windrad auf...
Sehen Sie, ich habe es selbst erlebt. Daraufhin habe ich an vielen Demonstrationen teilgenommen, 1981 und 1984 meine Kinder gekriegt, mich den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) angeschlossen.
Wie haben Sie von der Tschernobylkatastrophe gehört?
Ich hab‘s im Fernsehen gesehen. Dann habe ich bei Freunden, Bekannten angerufen. Hier in Bielefeld hat sich eine Ärztin eingearbeitet und uns das Einmaleins der Strahlenmedizin nahe gebracht. Wir wollten unbedingt etwas tun. Dann haben wir uns an der Eltern-Kinder-Demonstration beteiligt. Mit groß und klein fuhren wir mit einem Sonderzug nach Bonn.
War es wichtig für ihr Engagement, dass Sie eine junge Mutter waren?
Bei den großen Friedensdemonstrationen hatten wir Ärzte gesagt: In einem Atomkrieg werden wir Euch nicht helfen können. Dann kam das Unglück und die Warnungen waren plötzlich so real: Jetzt musste ich auch etwas für die eigenen Kinder tun. Ich glaube, mein Engagement hat sich stark verinnerlicht.
Glaubt man der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Atomkontrollbehörde (IAEO) war es nicht so schlimm: 50 Tote, ein paar tausend krebserkrankte Kinder, die zu 99 Prozent heilbar seien.
Es gibt auch ein Zitat von Hans Blix, der hat gesagt, die Atomindustrie könnte gut einen solchen Unfall im Jahr verkraften.
Aber ist es nicht schön, wenn die WHO feststellt, es war nicht so schlimm?
Bei der Explosion aus dem Tschernobyl-Reaktor sind mindestens das Äquivalent von 100 Hiroshima-Bomben entwichen. Die radioaktive Wolke hat riesige Flächen in Weißrussland, der Ukraine, Russland, aber auch Europa kontaminiert. Selbst in Südbayern finden sich immer noch verstrahlte Pilze. Neun Millionen Bewohner in Weißrussland, Ukraine und Russland sind betroffen, drei Millionen Kinder. Zusätzlich 600.000 bis eine Millionen Aufräumarbeiter, die Liquidatoren.
Aber weshalb kommt die IAEO zu anderen Ergebnissen?
Die IAEO scheut kritische Studien. In ihrem Statut ist die „Förderung der friedlichen Nutzung der Atomenergie“ festgeschrieben. Und die WHO hat 1959 einen Knebelvertrag mit der IAEO abgeschlossen, der ihr die Kontrolle über alle Gesundheitsstudien zu Folgen radioaktiver Strahlung gewährleistet. Die WHO kann also nicht frei forschen. Ein weiteres Problem war die Geheimhaltungspolitik der Ex-Sowjetunion.
Sie werfen der IAEO vor, im Sinne der Atomenergie zu handeln?
Ja, an dieser Tatsache kann man nicht vorbeischauen. Die IAEO unterdrückt Studienergebnisse aus betroffenen Ländern und von unabhängigen Wissenschaftlern.
Warum?
Weil es so brisant ist. Die Ärzte in Weißrussland sagen, jetzt sind 90 Prozent der Kinder krank und zehn Prozent gesund. Vor 1986 waren 80 Prozent gesund und 20 Prozent der Kinder krank. Das sind furchtbare Zahlen!
Aber weshalb sollten diese Informationen unterdrückt werden? Tschernobyl lässt sich nicht ungeschehen machen.
Aber verharmlosen. Die IAEO arbeitet letztlich im Interesse der großen Energieunternehmen. Gegründet wurde die IAEO 1957. Damals verbreitete US-Präsident Eisenhower die Idee der „Atoms for Peace“ – Atomwaffen sollen eingedämmt und die Kernspaltung zum Nutzen der Menschheit eingesetzt werden. 18 Stunden nach Hiroshima hat Präsident Truman gesagt, die Wissenschaftler müssen überlegen, wie die Kernspaltung friedlich genutzt werden könne. Als Psychotherapeutin unterstelle ich einen Wiedergutmachungsversuch nach Hiroshima und Nagasaki.
Warum spricht niemand über diese Wirtschaftsförderung der IAEO?
Es gehört sich offenbar nicht. Als die IAEO 2005 den Friedensnobelpreis erhielt, meldeten nur IPPNW und Greenpeace Kritik an wegen der Förderung der Atomenergie. Wohlwissend um die Verdienste von Generaldirektor Mohammed al-Baradei, der seine Stimme gegen den Angriff auf den Irak erhob.
Muss man die Atom-Krise mit dem Iran mit anderen Augen betrachten?
Es geht um die Kontrolle der Ölressourcen, es geht um Weltherrschaft durch die US-Regierung. Aber gleichzeitig wird auch Atomenergie gefördert, gerade von den USA, die auch Interessen ihres Atomkomplexes verfolgen. Deshalb finde ich es so schlimm, dass es von der EU kein Angebot gegeben hat, regenerative Energien anzubieten, was die Unabhängigkeit von fossilen Rohstoffen fördern würde – der Iran will ja unabhängig werden!
Der Iran will die Atombombe!
Das wäre verhängnisvoll. Es ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Die Alternative wäre Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen: In Israel sind mindestens 200 Atombomben gelagert, rundherum gibt es US-Waffen. Der Iran braucht Sicherheitsgarantien. Die Lösung ist eine atomwaffenfreie Zone.
Ortswechsel: Im November 2005 fiel im Münsterland nach Schneefällen der Strom aus. Hat sie das beunruhigt?
Es hat mich sehr beunruhigt. Können oder wollen die Energieversorgungsunternehmen nicht dafür sorgen, dass die Masten und das Leitungssystem der Witterung standhalten? Ich unterstelle, das nicht Sicherheit und Schutz der Bevölkerung vorrangig sind, sondern schnelle Profite.
Mit RWE betraf es einen Konzern, der AKWs betreibt.
Genau. Die müssen ihre Kernkraftwerke regelmäßig einer Sicherheitsuntersuchung unterziehen. Aber das Personal arbeitet unter Zeitdruck – auf Kosten der Sicherheit. Auch deshalb möchte ich, dass Atomkraftwerke abgeschaltet werden.
In der Diskussion ist aber eine Laufzeitverlängerung.
Der Renaissance der Atomenergie wird angesichts des knappen Urans schnell der Brennstoff ausgehen. Mich beunruhigt aber, dass in Medien die Atom-Befürworter ausführlich zu Wort kommen. Dagegen ist Eurosolarpräsident Hermann Scheer nur selten zu hören und zu sehen.
Aber es wird ausführlich über Castor-Proteste berichtet.
Das schon. Doch wenn es um die Zukunftssicherheit unserer Energie geht, werden Sprecher von E.on, ENBW, RWE und Vattenfall befragt. Die sind auch eingeladen, wenn Angela Merkel zum Energiegipfel bittet.
Wenn Atomenergie wieder belebt wird, wird auch der Widerstand erstarken?
Wir arbeiten daran. Deshalb veranstalten wir den Kongress in Bonn. Der 20. Jahrestag von Tschernobyl ist eine große Chance, mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu bekommen.
Wir groß sind die tatsächlichen Folgen der Reaktorkatastrophe?
Der größte Teil der Folgen steht noch aus: An Schilddrüsenkrebs sind bis jetzt 10.000 Menschen in Russland erkrankt. Einer anderen WHO-Prognose zufolge sollen 50.000 Kinder, die aus dem schwerst verstrahlten Gebiet Gomel kommen, noch an diesem Krebs erkranken. Alle Altersgruppen zusammen genommen, sind das dort 100.000 Fälle. Das russische Umweltministerium hat eine Zahl herausgegeben, dass 1,3 Millionen Menschen erkrankt seien. Und insgesamt 2,7 Millionen aus den belasteten Gebieten. Von den Liquidatoren sollen 15.000 bis 50.000 gestorben seien. Russischen Angaben zu folge sind 90 Prozent von ihnen krank. Auch Kinder- und Jugenddiabetes hat zugenommen. Laut Mainzer Kinderkrebsregister sind allein in Bayern 1.000 bis 3.000 zusätzliche Fehlbildungen auf Tschernobyl zurückzuführen.
Wäre es schwieriger gegen Atomkraft zu argumentieren ohne Tschernobyl ?
Bei ganz vielen hat das einen Schock hervorgerufen. Deswegen ist auch der Kampf um die Deutungshoheit so wichtig. Die Studien der IAEO werden von Wissenschaftlern erstellt, die von ihren Regierungen etwa in die Strahlenschutzkommission berufen wurden. Zumeist sind sie Atombefürworter wie Professor Albrecht Kellerer aus München. Zu Tschernobyl hat er gesagt, das Problem sei die Radiophobie.
Ihre Organisation heißt Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, gibt es auch Ärzte die dagegen sind?
Ich glaube, es gibt nur Ärzte, die das verhindern wollen, klar. Aber es gibt Ärzte, die das mit dem Strahlenrisiko nicht so tragisch sehen.