BAMBIE, DIE NACHLESE : Schrecken des Morgens
VON LUCIE MARSHALL
Wenn Sam morgens aufwacht, dann kommt er schnurstracks mit einem Buch zu uns ins Schlafzimmer gestapft und weckt uns mit dem Kommando: „Vorlesen!“
Nun macht man sich als Eltern ja grundsätzlich immer Gedanken über den Bildungsstand der Kinder und ist glücklich, wenn das Kind viel lesen will. Niemand will diesen Elan bremsen. Nur morgens um 6.45 Uhr kriege ich kaum die Augen auf. Marc stellt sich scheintot.
Heute Morgen hatte Sam ein ganz besonderes Buch mitgebracht: „Bambi“. – „Woher hast du das denn?“ murmele ich. „Das is Papa Buch.“ Marc hat in einem Regalfach seine alten Kinderbücher stehen. Sam liebt diese Bücher. Aber Bambi? Um 6.45 Uhr? Ich weiß nicht, ob ich um diese Zeit für die Tränen bereit bin, die garantiert fließen, wenn Bambis Mutter erschossen wird. Außerdem folgt dem Drama zwangsläufig die Diskussion über Waffen im Allgemeinen. Als Kind der „Petting statt Pershing“-Generation, das die Wochenenden in den 80er auf Friedensdemos verbracht hat, habe ich bis heute selbst zu Spielzeugwaffen ein völlig verspanntes Verhältnis.
„Lass uns ein anderes Buch lesen“, versuche ich Sam umzustimmen. Marc schaltet sich ein: „Keine Sorge, das ist die nette Version von Bambi.“ Seit wann gibt es die denn? „Ja, Mama, nette Vision“, wiederholt Sam. Na gut, ich fange an zu lesen, und natürlich kommen wir an die Stelle, an der Bambis Mutter erschossen wird. „Ich dachte, das sei die NETTE Version!“, fauche ich Marc an. Der grummelt irgendwas von „Ach, nich?“ zurück. Und nun? Ich habe tagelang geheult, nachdem ich mit 8 zum ersten Mal „Bambi“ im Kino gesehen habe.
Sam zeigt bisher noch keinerlei tragische Regung. Und während mein Hirn auf Hochtouren nach Erklärungen sucht, sagt er ganz trocken: „ Mama, das is stupid, dass der Jäger Mama schießt. Dann kann Baby gar nicht mehr trinke.“ Ich schaue ihn verblüfft an: „Ja, das stimmt.“
Während ich innerlich auf Tröstworkshop schalte, ist Sam ganz nüchtern bei Jagdverordnungen. „Mama, muss man Jäger sage. Baby kann nich bei Papa trinke.“ Ich nicke. Mein kleiner Tierschützer kuschelt sich an mich. „Toll“, lobe ich mich selbst, „da hast du aber was richtig gemacht, Lucie. Der wird mal der Vorstand von Greenpeace.“
Sam greift nach einem anderen Buch. Eins über Cowboys. „Mama, kanns du mir Pistolen kaufen?“ Hä? „Aber Sam, ich dachte, schießen wäre keine gute Idee?“ Er grinst mich an: „Aber, Mama, bin doch Cowboy, und das ist so lustig mit Pistolen.“ Mm, doch nicht Greenpeace-Vorstand, sondern Psychopath? Oder einfach kleiner Junge? Ich entscheide mich für Letzteres. Und mache mir erst einmal einen Kaffee.
■ Tanya Neufeldt alias Lucie Marshall schreibt hier über den zauberhaften Wahnsinn, der über uns hereinbricht, wenn frau Kinder bekommt. luciemarshall.com