: Nach dem Blutrausch der Milizen in Onitsha
Erst jagten Muslime Christen, dann jagten Christen im Osten Nigerias Muslime. Das Ergebnis: über 1.000 Tote
ONITSHA taz ■ Ungerührt schauen die beiden Jugendlichen über die Trümmer. Sie sitzen im ersten Geschoss eines Rohbaus und schauen direkt auf die verwüstete Hauptstraße von Onitsha. „Hier ist überhaupt nichts passiert“, sagt der eine. „Alles wunderbar!“, fügt der andere hinzu. Mehr sagen die Männer im Marihuana-Dunst nicht. Vielleicht wollen ihre geschwollenen Augen die dem Erdboden gleichgemachten Geschäfte der Muslime nicht sehen. Auch nicht die geschleifte kleine Moschee.
Onitsha im Osten Nigerias ist einer der wichtigsten Handelsknotenpunkte Westafrikas. Ein paar hundert Meter von den beiden Haschischrauchern entfernt spannt sich eine riesige Hängebrücke über den Niger-Fluss. Am Fuße der Brücke beginnt der „Head Bridge Market“, wo für ganz Nigeria Waren umgeschlagen werden: Zwiebeln, Tomaten, Karotten, Ziegen, Flussfische aus dem Norden; Auto- und Motorradersatzteile, Elektronikgeräte, Medikamente aus dem Süden. Und hier begann im Februar mörderische Gewalt – als Reaktion auf die dänischen Mohammed-Karikaturen. Christen jagten Muslime, nachdem im nordnigerianischen Maiduguri Muslime Christen gejagt hatten.
Pater Aloysius Orakwe, Sprecher der Diözese von Onitsha, erinnert sich. „Hier am Markt halten sich die meisten Nordnigerianer auf“, erzählt er. „Unweit von hier halten die Busse aus dem Norden. Ein Gerücht ging um, dass ein Bus aus Maiduguri mit den Leichen der dort getöteten Igbos angekommen sei. Eine Stunde später herrschte ein Klima des Tötens, das ich so noch nicht gesehen hatte“.
Muslime sagen, dass nicht christliche Jugendliche aus Onitsha für die Angriffe verantwortlich waren, sondern angereiste gewaltbereite. Onitsha galt als Handelszentrum stets als verhältnismäßig tolerant. Wie auch Maiduguri im Norden.
Nigerias Regierung nennt Todeszahlen bei solchen Ereignissen nur ungern. Dadurch soll ein Anheizen der Stimmung vermieden werden. Dadurch wird aber auch nie geklärt, was genau geschehen ist. Auch jetzt bleibt völlig unklar, wie viele Menschen in Onitsha und Maiduguri umkamen. Nigerias Bischofskonferenz sprach von über 50 ermordeten Christen in Nordnigeria. Als es zu den Racheakten in Südnigeria kam, wurde die Zahl 100 kolportiert. In Onitsha hält kaum einer das für realistisch.
Pater Aloysius Orakwe und auch Muslime gehen von einer Null mehr aus – also 1.000 Tote. „Ich konnte die Toten nicht zählen, als ich über die Hauptstraße hin zur Brücke flüchtete. Und das waren nur einige hundert Meter“, sagt Iya Madina, eine muslimische Händlerin. Nur durch die Hilfe eines befreundeten Igbo-Geschäftsmanns kam sie in Sicherheit. Tausende Menschen flohen über die Brücke.
„An diesem Tag haben wir stundenlang keine Sicherheitskräfte gesehen. Die Angreifer konnten machen, was sie wollten, töten und plündern“, sagt Isiyaku Baba Mallam, ein nordnigerianischer Ziegenhändler. Wer Gesichtsnarben aus Nordnigeria hat, wer den muslimischen Kaftan trägt und wer weder Englisch noch Igbo kann, war vor dem Mob nicht sicher.
Unzählige Geschäfte wurden geplündert und zerstört, die Zentralmoschee angegriffen, Dutzende Lastwagen abgeladen und in Brand gesteckt. Nun hoffen alle auf Entschädigungszahlungen des Staates. Und auf der anderen Flussseite, im benachbarten Bundesstaat Delta, entsteht ein neuer Markt. Denn viele Nordnigerianer wollen mit ihren Zwiebeln und Ziegen nicht nach Onitsha zurück.
Pater Orakwe berichtet, wie eine Frau ihren Sohn zu ihm brachte. „Sie sagte, er habe bei den Verfolgungen mitgemacht und sie wolle deshalb nicht mehr in demselben Haus leben. Es sei denn, er würde versprechen, sich zu ändern.“ Der 17-Jährige habe es versprochen. „Dann fragte ich ihn, ob er jemanden getötet hat. Er sagte: Nein. Aber er sei sehr nahe dabei gewesen. Darauf fragte ich ihn, was er fühlt, wenn jemand durch Macheten und Knüppel zu Tode kommt. Er sagte, es täte ihm Leid. Aber aufgrund dessen, was seinen Leuten im Norden widerfahren ist, hätte er kein Mitleid verspürt. In dem Moment wollte er sogar, dass noch mehr getötet werden. Dann betete ich für ihn.“ HAKEEM JIMO