: Begriffsgeschichte Totalitarismus
IDEOLOGIEKRITIK Der amerikanische Historiker Michael Christofferson räumt mit der Legende auf, dass der Antitotalitarismus der französischen Linken eine Reaktion auf die Entdeckung sowjetischer Lager 1974 war
VON RUDOLF WALTHER
Vor ein paar Wochen erschienen gleich zwei Bücher des französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy. Ein 1.300 Seiten starker Wälzer versammelt seine Schriften aus den letzen Jahren. Über dieses Buch redet in Frankreich fast niemand. Das zweite Büchlein umfasst ganze 130 Seiten und trägt den Titel „De la guerre en philosophie“. Es ist eine Abrechnung Lévys mit lebenden und toten Gegnern. Am Ende ist auch Kant an der Reihe – nach Lévy ein „konzeptwütiger Möchtegernweiser ohne Leben und ohne Körper“.
Als Beleg für Kants Fleischlosigkeit zitiert Lévy den Philosophen Jean-Baptiste Botul mit einer Schrift über das „Sexualleben Kants“. Wenn Lévy das 88-seitige Heftchen in der Hand gehabt und auch nur das Vorwort gelesen hätte, müsste er den Traktat als Satire erkannt haben. Da heißt es etwa – gleich am Anfang –, Botul habe den Text 1946 in Paraguay in der deutschen Kolonie Nueva Königsberg vorgetragen. Hinter der Parodie steht Frédéric Pages von der satirischen Zeitschrift Le Canard enchaîné. Lévy hat das Heftchen nicht gelesen und steht als Scharlatan da. Trotzdem sitzt er jetzt in fast allen Talkshows, Wochenblätter bringen sein Porträt auf den Titelseiten und drucken klebrige Homestorys.
Über ein anderes Buch wird in Frankreich so gut wie gar nicht gesprochen. Der amerikanische Historiker Michael Christofferson entschleiert in seiner 400-Seiten starken Studie mit dem Titel „Les intellectuels contre la gauche“ (Verlag Contre-Feux Agone) die „antitotalitäre Ideologie“, zu der Lévy einiges beigetragen hat. Eine deutsche Übersetzung gibt es noch nicht, sollte es aber, denn die „antitotalitäre Ideologie“ fand auch hierzulande ihre Apostel.
Der Legende nach entstand der „Antitotalitarismus“ nach dem Gulag-Schock, das heißt nach der Veröffentlichung des ersten Bandes von Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ auf Französisch im Juni 1974. Dieses Buch soll – so die Medienlegende – den französischen Intellektuellen gleichsam über Nacht die Augen geöffnet haben über die Gefahren des „Totalitarismus“, die sowjetischen Arbeitslager und den Kommunismus sowieso. Diese Legende zerpflückt Christofferson historisch und philologisch brillant.
Synonym und Staatsräson
Der Begriff „Totalitarismus“ kam in den 1920er-Jahren auf, fand aber erst im Kalten Krieg nach 1947 größere Verbreitung. Der Begriff zirkulierte hauptsächlich in den USA, in der Bundesrepublik, in Italien und in Frankreich in unterschiedlichen Varianten, deren Gemeinsamkeit darin bestand, dass er politisch überall instrumentalisiert wurde. In den USA diente er zur Legitimation der Außenpolitik, in der BRD war er ein Synonym für Antikommunismus und also Staatsräson.
Christofferson zeigt, dass der Begriff in Frankreich eine viel geringere Rolle spielte als anderswo und sich fast ausschließlich auf die Kommunistische Partei (KPF) bezog. Große Teile der französischen Intelligenz, die nach 1945 links stand, distanzierten sich von der KPF wegen ihrer Haltung zum Ungarn-Aufstand von 1956 und wegen ihrer zögerlichen Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Maurice Merleau-Ponty zweifelte schon 1950 – angesichts der Arbeitslager in der UdSSR –, ob da „noch von Sozialismus zu sprechen“ sei. Die Kritik am Kommunismus war also in der französischen Intelligenz längst geläufig und die sowjetischen Lager schon lange bekannt, als 1974 Solschenizyns Buch erschien. Nicht das Buch hat die Kritik am Totalitarismus verstärkt, sondern die Reaktion der KPF auf das Buch, das als „antisowjetische Propaganda“ gegen die Entspannungspolitik abgetan wurde. Die KPF spuckte Gift und Galle gegen den Autor.
Die hohen Wellen, die das Buch in Frankreich schlug, müssen in einem ganz anderen Kontext gesehen werden. Der Linksradikalismus von 1968 zerfiel in maoistische Gruppierungen rund um die „Gauche prolétarienne“, die sich als antistalinistisch, antibürokratisch und antiautoritär verstand und wie ihr Mentor Michel Foucault für „Selbstbestimmung“, „Volksmacht“ und „Volksgerichte“ eintrat.
Auf dem Parteitag von Epinay 1971 wurde aus der alten sozialdemokratischen Partei Frankreichs die von François Mitterrand geführte sozialistische Partei. Mitterrand arbeitete zielstrebig auf ein Linksbündnis hin, dessen erstes Resultat das „Gemeinsame Programm“ („Programme commun“) von 1972 bildete. Das war das Signal für die Kampagne unter der Fahne des „Antitotalitarismus“.
Von den maoistischen bis zu den konservativen Intellektuellen protestierten nun viele Intellektuelle sowie unabhängige linke Publikationen wie Nouvel Observateur und Libération gegen die Linksunion und malten das Gespenst einer „totalitären Herrschaft“ der KPF an die Wand. Es war also eine innenpolitische Konstellation und die Angst linker Intellektueller vor der Marginalisierung, die den Antitotalitarismus hervorbrachten und nicht etwa eine seriöse Beschäftigung mit den totalitären kommunistischen Regimes oder mit dem Buch Solschenizyns.
Die Kritik am angeblich drohenden „Totalitarismus“ durch die Machtbeteiligung der KPF wurde schriller nach der portugiesischen Revolution vom Frühjahr 1974. Putschversuche von links und von rechts und vor allem die harten politischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten hatten Rückwirkungen auf die französischen Medien und Parteien. „Portugal“ als eine „totalitäre Diktatur“ wurde zur Chiffre für die Zukunft Frankreichs, obwohl Portugal zu keiner Zeit in die Diktatur zurückfiel und Mitterrand den Kommunisten in Frankreich keine Konzessionen machte. Der „Antitotalitarismus“ war insofern keine Antwort auf eine reale Bedrohung, sondern eine Kampfansage an ein Phantom im ideologischen Handgemenge.
Das Schlüsseltrio
Je näher die Parlamentswahlen von 1978 rückten, desto hektischer wurden die Debatten über „Totalitarismus“. Eine Schlüsselrolle spielten dabei André Glucksmann mit seinem Buch „Maîtres penseurs“ („Meisterdenker“, 1977) und Bernard-Henri Lévy mit „La Barbarie à visage humain“ („Die Barbarei mit menschlichem Antlitz“, 1977) – zusammen mit Glucksmanns „La cuisinière et le mangeur d’hommes“ („Köchin und Menschenfresser“, 1975) wurden diese Bücher zu den Fibeln des „Antitotalitarismus“ und der „neuen Philosophie“. Die drei Bücher bilden so etwas wie die Apotheose der Totalitarismus-Beschwörungen, mit denen Glucksmann Intellektuelle, Wissenschaft und Vernunft pauschal zu Komplizen von Staat, totalitärer Herrschaft und Völkermord erklärte und sich dabei zum Diktum verstieg, „Denken heißt Beherrschen“. Lévy drehte ähnliche Pirouetten. Der Gulag galt ihm als „Aufklärung abzüglich Toleranz“. Neun Jahre nach dem politischen Aufbruch vom Mai 1968 erklärte Lévy jeden politischen Wandel kategorisch zum potentiellen Totalitarismus.
Eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der Ideologie des „Antitotalitarismus“ spielte auch der Historiker François Furet. Er half zunächst dabei, die Legitimität der Tradition der Französischen Revolution zu untergraben, indem er die Terrorherrschaft von 1793/94 geradewegs mit dem stalinistischen Terror verband – was zwar anachronistisch, aber nach 1978 wirksam war. Zehn Jahre später distanzierte sich Furet von der abstrusen These.
Die „Antitotalitären“ lieferten sich eine mediale Show der Überbietung im Namen eines menschenrechtlich fundierten Universalismus. Sie vermochten jedoch nicht zu kaschieren, dass ihre Kritik nur auf einer lokalen Polemik gegen virtuelle Gefahren des französischen Kommunismus beruhte. Politisch blieb der „Antitotalitarismus“ gegenüber den wirklichen Diktatoren biss- und folgenlos und bewirkte nur eines: Die KPF wich schrittweise von stalinistischen Positionen ab, wodurch der „antitotalitären“ Kritik ihr Gegenstand abhanden kam. Moralisch setzte sich der französische Antitotalitarismus vollends ins Abseits. Über der plakativen Kritik der real existierenden Diktaturen im Osten verlor er die lateinamerikanischen Terrorregimes völlig aus den Augen.
Die Ideologie des Antitotalitarismus passt ebenso genau zum konformistischen Fernsehphilosophen Lévy wie das guruhafte Sphärengemurmel zu seinem deutschen Pendant Sloterdijk.