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Archiv-Artikel

Obdachlose für die Dörfer

Stoffblumen, Häkeldeckchen und der Duft von frischen Kräutern: Wie obdachlose Roma den Niedergang von ungarischen Dörfern stoppen

Wahlen in Ungarn

■ Dass Ungarn nach den Parlamentswahlen vom 11. und 25. April von Viktor Orbán und dessen rechtspopulistischer Bürgerunion FIDESZ regiert werden wird, gilt längst als eine unumstößliche Tatsache. Eine absolute Mehrheit scheint dem Expremier (1998–2002) dabei ebenso sicher wie den derzeit regierenden Sozialdemokraten (MSZP) ein verheerender Absturz. Die wirtschaftliche Bilanz des vor einem Jahr schon abgetretenen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány ist fatal, der Reformstau konnte unter seinem neoliberalen Nachfolger Gordon Bajnai nur teilweise und für die meisten Ungarn äußerst schmerzhaft beseitigt werden. Gespannt darf man nur sein, wie die rechtsextreme Jobbik abschneidet, die vor allem mit Hassparolen gegen „Zigeunerkriminalität“ mobilisiert und für die 15 bis 20 Prozent prognostiziert werden. (rld)

AUS ERK RALF LEONHARD

Jeden Morgen, wenn er aufwacht, freut sich István Samu. Manchmal kann er sein Glück gar nicht fassen. Er hört die Vögel zwitschern und im Sommer zieht der Duft frischer Kräuter aus dem Garten herein. Noch vor wenigen Jahren war an ruhige Nächte und sanfte Düfte nicht zu denken. Er teilte mit seiner Frau Borbala und fünf Kindern ein enges Zimmer in der Industriestadt Ózd, unweit der Nordostgrenze zur Slowakei. Jetzt lebt die Familie in einem alten Bauernhaus, dessen geräumige, mit Teppichen ausgelegte Zimmer ein wenig an das Innere eines Nomadenzelts erinnern. Auch wenn unangekündigt Besuch kommt, herrscht fast übertriebene Ordnung. Die Stoffblumen, die auf Häkeldeckchen jeden Tisch dekorieren, machen den Eindruck, als würden sie jeden Tag abgestaubt. Kein Spielzeug liegt herum. Und selbst die Fenster sehen aus, als seien sie gerade eben frisch geputzt worden.

Im Nordosten erhebt sich am Horizont das Mátra-Gebirge, wo der mit knapp über 1.000 Meter höchste Punkt Ungarns liegt. Nach Süden breitet sich die ungarische Tiefebene aus, das landwirtschaftliche Kernland. Die Samus waren eine der ersten Roma-Familien, die vor drei Jahren im Dorf Erk, rund 100 Kilometer nordöstlich von Budapest, angesiedelt wurden. „Wir hatten von dem Programm gehört und uns beworben“, sagt der schnauzbärtige István, dessen leicht angegrautes Haar militärisch kurz geschnitten ist. „Es wurde überprüft, wie wir lebten. Wir haben uns vorgestellt, und der Bürgermeister fand uns wohl sympathisch.“

Bürgermeister Béla Meleghegyi, 68, der hinter einem Berg von Papieren an seinem Schreibtisch amtiert, hat alle Familien, die aufgenommen wurden, selbst begutachtet: „Jeden nehmen wir nicht.“ Und alle müssen einen Vertrag mit der Gemeinde unterschreiben, in dem die Regeln für das Zusammenleben festgelegt sind: Haus und Garten sind in Ordnung zu halten, die Kinder müssen die Schule besuchen und angebotene Arbeiten müssen angenommen werden. Meleghegyi spricht es nicht aus. Aber die Roma haben den Ruf, arbeitsscheu und verwahrlost zu sein. Kinder wachsen oft ohne jede Ausbildung auf.

In Erk habe man nur die besten Erfahrungen gemacht, sagt der Bürgermeister. Schon vor dem Zuzug von sechs Familien zählte fast die Hälfte der kaum 1.000 Einwohner zur größten Minderheit Ungarns. Anpassungsschwierigkeiten gebe es natürlich, echte Probleme aber nicht. Die soziale Kontrolle in der kleinen Ortschaft funktioniert.

Tiefpunkt: 800 Einwohner

Bürgermeister Meleghegyi gehört nicht zu jenen, die meist abfällig als Gutmenschen bezeichnet werden. Und die Aufnahme von kinderreichen Familien hat auch keine karitativen, sondern handfeste ökonomische Gründe: „Wenn zu wenige Kinder in die Schule gehen, dann streicht der Staat seine Zuschüsse und die Schule muss zusperren. Ist die Schule einmal weg, dann dauert es nicht lange, bis auch das Postamt schließt. Wenn es keine Post mehr gibt, dann macht auch der letzte Lebensmittelladen dicht. Das Dorf ist tot.“ Vor ein paar Jahren war man schon fast so weit. Erk zählte zu seinen besten Zeiten 1.800 Einwohner. Als vor 20 Jahren die politische Wende kam, waren es immerhin noch 1.200. Den Tiefpunkt erlebte das Dorf vor acht Jahren. Da lebten gerade noch 800 Menschen hier. Meleghegyi: „Die jungen Leute zogen nach Budapest und kamen nicht mehr zurück.“ Auch seine eigene Familie macht da keine Ausnahme: Die einzige Tochter lebt in der Hauptstadt und zeigt keine Absicht, zurückzukehren.

Erk liegt in Heves, einem der ärmsten Komitate Ungarns. Dort musste man erleben, dass mit Freiheit und Demokratie auch der wirtschaftliche Niedergang einsetzte. Das alte System funktionierte nicht mehr und die Segnungen des neuen kamen nicht bis Heves. Die neue Industrie, die Autohäuser, die großen Supermärkte und Fertigungsindustrien konzentrieren sich im Westen. Die Genossenschaft, die Tomaten, Paprika und Schweinefleisch für den sowjetischen Markt produzierte, ist längst weg. Kleinbauern gibt es praktisch nicht. Früher hatte aber fast jedes Haus eine Kuh oder ein paar Schweine. „200 Kühe gab es damals“, seufzt der Bürgermeister: „Jetzt sind es gerade noch zwei. Mein Fleisch und die Milch kaufe ich nicht mehr beim Bauern, sondern im Supermarkt.“

Die Ortschaft wirkt arm, aber nicht heruntergekommen. Vor der Kapelle gegenüber dem Rathaus erinnern Gedenksteine an die zahlreichen Weltkriegsopfer: bescheidener die aus der Zeit des Untergangs der K.-u.-k.-Monarchie, bombastischer die aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch das Denkmal des heiligen Stephan, der Ungarn vor 1.000 Jahren christianisierte, darf nicht fehlen. Die ebenerdigen Häuschen sind alt, aber nicht verwahrlost, die meisten Gartenzäune frisch gestrichen.

Eigentlich stand nicht die Idee der dörflichen Entwicklung am Anfang. „Wir kümmerten uns viel um Obdachlose in den Städten“, erzählt Miklós Vecsei, stellvertretender Leiter des Malteserritterordens in Ungarn. In den Parks an der Peripherie Budapests kann man Familien antreffen, die dort seit Monaten campieren. Vecsei hat sich um solche Leute gekümmert: „Man findet da zerstörte Hoffnungen.“ Arbeit finden die wenigsten. Zurück können sie meist auch nicht, denn wenn ein Haus einmal ein paar Monate leer steht, wird es mit Sicherheit geplündert. Viele sind auch auf der Flucht vor staatlichen Sozialarbeitern, denn sie fürchten, dass ihnen die Kinder weggenommen werden.

Zwölf Familien angesiedelt

Tarnabod, nur zwölf Kilometer entfernt von Erk, liegt am Ende einer Art Sackgasse, die vom öffentlichen Verkehr nicht angesteuert wird. Der Ort selbst hatte keinen eigenen Wirtschaftsbetrieb. Ein Ansiedlungsprogramm konnte also nur funktionieren, wenn gleichzeitig die Strukturprobleme des Dorfes gelöst würden. Allein der Ankauf eines Busses, der den nächsten Bahnhof und die Hauptstraße anfährt, konnte binnen kürzester Zeit 33 Menschen zu Jobs in umliegenden Industriebetrieben verhelfen. Für den Ankauf von Häusern schoss der Staat ein paar Millionen Forint zu. So konnten zwölf obdachlose Familien angesiedelt werden.

László Tóth kommt gut gelaunt und mit schwarzen Fingern von der Arbeit. Er arbeitet in einer Eletronik-Recyclinganlage, die von den Maltesern in Tarnabod aufgebaut wurde. Elektronikschrott wird hier zerlegt: die brauchbaren Teile werden der Wiederverwertung zugeführt, der Rest kommt zur Entsorgung. 500 Tonnen Schrott werden hier jährlich aufbereitet. 30 Menschen stehen dadurch in Lohn und Brot. Der 33-jährige Tóth, dem das Leben schon tiefe Furchen ins Gesicht geschnitten hat, sortiert die wertvollen Buntmetalle. Er denkt keinen Moment darüber nach, in sein früheres Leben zurückzukehren. In Budapest war er von seiner Frau getrennt – nicht weil er oder sie es so wollte, sondern weil es nicht anders ging. Sie war mit Zwillingen im Säuglingsalter in einem Mütterheim untergebracht, er schlief in einer Werksunterkunft der Großküche, wo er sich als Hilfskraft verdingte. „Den Leiterinnen vom Mütterheim bin ich aufgefallen, weil ich jeden Tag meine Frau besuchen kam. Eines Tages sagten sie, es gebe eine Möglichkeit, dass wir zusammenleben könnten.“ Vor mittlerweile drei Jahren kam die Familie nach Tarnabod, die Kinderschar hat sich verdoppelt.

Jobbik ohne Chance

Doch nicht alles ist eitel Wonne in Tarnabod. Vor zwei Jahren überfielen drei jugendliche Roma einen sehbehinderten Rentner. „Einer der Burschen war leider aus dem Dorf. Sie müssen gewusst haben, dass bei László Balogh nichts zu holen war“, erzählt Bürgermeister Zoltán Petö. Der Mann wurde so brutal geprügelt, dass er am nächsten Tag im Spital starb. Die Beute: eine alte Ölheizung. Dass die Burschen schnell gefasst wurden, war nur ein schwacher Trost. Wenige Monate später wurden wieder drei Roma verhaftet. Man beschuldigte sie, mehrere Häuser beschossen und mit Molotowcocktails attackiert zu haben. „Die wurden aber freigelassen, als man letztes Jahr die rechtsextreme Debrecen-Bande fasste.“ Deren Mitglieder werden beschuldigt, die bis dahin nicht aufgeklärten ethnisch motivierten Anschläge in Ungarn begangen zu haben.

„Das Dorf ist damit fertig geworden. Seither haben wir keine Probleme mehr“, versichert Petö, der Polizist in Budapest war, bis er 2001 zum ersten Mal gewählt wurde. Damals war er 29. Offenbar macht der Hobby-Hundezüchter seine Sache zur Zufriedenheit der Dorfbewohner, denn im Herbst will er sich um eine vierte Amtszeit bewerben. Von seiner Partei, der sozialistischen MSZP, ist er allerdings enttäuscht. Er rechnet damit, dass sie sich nach der absehbaren Schlappe bei den Parlamentswahlen im April spaltet. Die rechtsextreme Jobbik, die vor allem in den ehemaligen linken Hochburgen im Osten auf dem Vormarsch ist, wo sie den Rassenhass schürt, hat in Dörfern wie Tarnabod und Erk, wo das Zusammenleben zwischen Roma und ethnischen Ungarn funktioniert, nur geringe Chancen.

Größter Arbeitgeber ist immer noch der Bürgermeister, der alle, die sonst keinen Job kriegen, zum staatlichen Mindestlohn für gemeinnützige Arbeiten einstellt. Aber es gibt auch Eigeninitiative. Eine der neuen Roma-Familien hat eine Ziegenzucht aufgezogen und produziert inzwischen Ziegenkäse, der im Ort reißenden Absatz findet. László Tóth hat in den drei Jahren schon spürbare Entwicklung beobachtet: Für die Kinder wurde in der ehemaligen Kneipe eine Spielstätte mit Pingpongtisch und Internet eingerichtet. Für Schulkinder gibt es Förderunterricht in Kleingruppen und Tagesbetreuung. Ein pensionierter Landwirt gibt Tipps für Viehzucht und Ackerbau, um die kleinräumige Landwirtschaft wiederzubeleben. Die Betriebsamkeit der Hauptstadt geht Toth nicht ab. Wenn das Wetter schön ist, kocht man im Freien Kesselgulasch oder macht mit Freunden Musik: „Wenn sich nichts anderes ergibt, kann ich mir vorstellen, in Tarnabod alt zu werden.“