: Schulmädchens Frische
Mit dem überraschenden Erfolg der 16-jährigen US-Amerikanerin Kimmie Meissner gehendie Weltmeisterschaften im Eiskunstlauf zu Ende. Russland bleibt erstmals seit 1984 ohne Titel
AUS CALGARY DORIS HENKEL
Beim festlichen Bankett zum Abschluss der Weltmeisterschaften wurden die Sieger noch einmal auf die Bühne gerufen, und größer hätten die Gegensätze nicht sein können. Gerade stand da noch, in einem atemberaubenden Kleid, die schöne Litauerin Margarita Drobiazko, die mit ihrem Mann und Partner Povilas Vanagas für die zweitbeste Kür der Eistanz-Konkurrenz geehrt worden war. Auch Sasha Cohen sah nicht übel aus und empfahl sich für eventuelle Aktivitäten als Schauspielerin, nicht nur wegen der Aufmachung. Doch dann kam Kimmie Meissner, ein 16 Jahre altes Schulmädchen aus der amerikanischen Provinz, in ihrem knielangen, gepunkteten Rock, Ballerina-Schuhen und Pullover mit V-Ausschnitt. Die neue Weltmeisterin, unverkrampft und ungeschminkt.
Sasha Cohen versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Als Führende nach dem Kurzprogramm war die Kalifornierin in die Kür gegangen, die erwartete Konstellation in Abwesenheit der Olympiasiegerin Shizuka Arakawa und der Weltmeisterin des vergangenen Jahres, Irina Slutskaja. Doch wie in Turin und wie so oft zuvor hielt sie dem Druck der Erwartungen und der Möglichkeiten auch diesmal nicht stand. Bis zehn Sekunden vor dem Ende ihrer Kür schien der Titel noch in Reichweite zu liegen, doch dann stürzte sie beim dreifachen Salchow, und ihr Gesicht nach der letzten Pirouette sprach Bände. Enttäuschung, Ratlosigkeit. Ihr muss klar gewesen sein, dass sie nur noch eine Chance auf den Gewinn des Titels haben würde, sollten sich die Verfolgerinnen ähnliche Fehler erlauben.
Aber Kimmie Meissner dachte nicht daran; die Sechste der Olympischen Spiele lief wie nie zuvor in ihrem jungen Leben. Überzeugte gleich zu Beginn mit zwei Dreifach-Dreifach-Kombination und sprang auch danach mit imponierender Frische und Selbstverständlichkeit. Solche Auftritte lieben die Kanadier; 10.000 auf den Rängen des Saddledomes verfolgten den Auftritt der jungen Kimmie mit zunehmender Begeisterung, und als die sich in den letzten zehn Sekunden in einer Pirouette drehte, da waren sie längst auf den Beinen.
Die Preisrichter zeigten sich kaum weniger beeindruckt und tippten höchstes Lob in den Computer. Mit der Kürwertung machte Meissner aus fünfeinhalb Punkten Rückstand auf Sasha Cohen fast zehn Punkte Vorsprung, und in ihrer Freude über all das schwenkte sie den hellblauen Teddybär, den Fans aufs Eis geworfen hatten. Kimmie und der Teddybär mussten nicht mehr zittern; keine kam mehr in ihre Nähe. Auch die wie immer einfühlsam laufende Japanerin Fumie Siguri nicht, die es aber immerhin noch schaffte, Cohen zu überholen und Japan einen Monat nach dem Olympiasieg von Shizuka Arakawa schon wieder zu verwöhnen.
Was Kimmie Meissner auf Anhieb gelang, davon wird Sasha Cohen weiter nur träumen können. Nach der Entscheidung ließ sie es offen, ob sie sich in Zukunft weitere Versuche gönnen wird. Auf die leicht ketzerische Frage, wie man sie denn wohl in Erinnerung behalten werde, sollte dies ihr letzter Auftritt gewesen sein, zeigte sie Sinn für Realismus. Man werde sie natürlich nicht als jemanden in Erinnerung behalten, sagte sie, der viele Titel gewonnen habe.
Aber vielleicht ist es zu früh aufzugeben, wie das Beispiel der neuen Weltmeister im Eistanz zeigt. Seit zehn Jahren laufen Albena Denkova und Maxim Stawijski aus Bulgarien zusammen, fast ebenso lang starten sie bei Weltmeisterschaften, und nach dem Rücktritt der russischen Olympiasieger Nawka/Kostomarow waren sie reif für den Titel. Maxim Stawijski stammt aus Russland, und so hatte die große Eiskunstlauf-Nation wenigstens indirekt eine Verbindung zum Kreis der Weltmeister. Auf direktem Weg kein Titel für Russland – das hat es seit 1984 nicht mehr gegeben – stattdessen für ein chinesisches Paar, einen Schweizer mit Charisma, eine frische Amerikanerin und Eistänzer aus Bulgarien. Den Kanadiern hat es gefallen.