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Archiv-Artikel

Jeder dritte Demokrat

„Sie können sicher sein, dass ich nicht gewählt habe“, sagt die Frau vor dem Eiscafé„Wir“, sagt Mandy K., „kommen auch so gut klar, da brauchen wir keine Politiker für“

AUS TEUCHERN HEIKE HAARHOFF UND BETTY PABST (FOTOS)

Es ist spät geworden im Rathaus von Teuchern. Die Wahlhelferinnen sind nach Hause gegangen, die Angestellten der Verwaltung auch, Bockwurstreste und leere Orangensaftflaschen liegen auf dem Tisch im kleinen Besprechungszimmer. Lothar Gieler, Henrik Otto und Siegfried Köhler sind jetzt unter sich.

Lothar Gieler, 53 Jahre, parteilos, der ehrenamtliche Bürgermeister der Stadt. Henrik Otto, 31 Jahre, der Amtsleiter. Siegfried Köhler, 57, der Chef der CDU-Fraktion im Stadtrat. „Seit 1974“, sagt er. Und lacht. „Sie können sich vorstellen, dass ich andere Ergebnisse gewohnt bin, 98 Prozent Wahlbeteiligung und mehr.“

Köhler steht auf und holt Sekt. „Rotkäppchen“, halbtrocken, angestoßen werden muss trotzdem. „Nächstes Mal stellen wir eine Gulaschkanone direkt vors Wahllokal“, sagt der Bürgermeister und hebt sein Glas. „Und ’ne Blaskapelle. Und Feuerwehralarm“, schlägt Köhler vor. „Gab’s früher nicht auch fliegende Wahlurnen“, fragt der Verwaltungschef, „mit denen man die Stimmen bei den Alten und Behinderten direkt abholte?“ Sein Lachen klingt rau.

31,1 Prozent Wahlbeteiligung in der Stadt Teuchern. Henrik Otto hat seinen Taschenrechner dreimal nachrechnen lassen, 31,1 Prozent, es bleibt dabei. Zwei von drei Wahlberechtigten aus der Kleinstadt im Landkreis Weißenfels sind einfach nicht hingegangen zur Landtagswahl von Sachsen-Anhalt. „Ich“, sagt Lothar Gieler, „bin ja noch von der Sorte Bürgermeister, der sich schämt für sein Volk.“

Schon bei der Landtagswahl vor vier Jahren war die Beteiligung in Teuchern, 3.600 Einwohner Wahlberechtigte – ein Debakel. Aber damals rafften sich immerhin noch 38,5 Prozent der Wahlberechtigten auf, ihre Stimme abzugeben. Der Bürgermeister hat nicht gedacht, dass dieses Desinteresse zu toppen sei. „Warum, weshalb“, er rudert mit den Armen, und mit jeder Bewegung nimmt der sächselnde Singsang in seiner Stimme zu. „Ich habe keine Analyse, so schlecht ist die Infrastruktur hier nicht.“ Sicher, die Arbeitslosigkeit ist hoch, 25 Prozent, aber das ist in Sachsen-Anhalt nichts Ungewöhnliches. Im Braunkohletagebau, wo einst 12.000 Menschen beschäftigt waren, haben noch 2.000 Arbeit. Von einst 8.000 Teuchernern leben noch 3.600 hier. Die LPG vor der Stadt wurde aufgelöst und in eine landwirtschaftliche GmbH umgewandelt, mit besseren Maschinen und weniger Beschäftigten. Andererseits: Leipzig ist nur 40 Kilometer entfernt, Naumburg 20. Ein Auto besitzt heute fast jeder in Teuchern, die Gesellschaft ist mobiler geworden, die Arbeitsplätze auch.

Lothar Gieler, früher SED-Mitglied und Elektroingenieur beim Tagebau, und Siegfried Köhler, zu DDR-Zeiten selbstständiger Lebensmittelhändler, haben erlebt, was es heißt, den sicher geglaubten Job zu verlieren und mit über 40 noch mal neu anfangen zu müssen. Gieler hat sich auf einen Posten beim städtischen Wärmeversorger gerettet und geschworen, als ehrenamtlicher Bürgermeister nie wieder einer Partei beizutreten; Köhler, dessen Laden kurz nach der Wende Pleite ging, hangelt sich mit befristeten Verträgen und ABM durch, derzeit macht er Turnhallen und Sportplätze sauber.

Aber ziehen sie sich deswegen etwa ins Schneckenhaus zurück? Haben sie ihr Interesse an Politik und Gesellschaft verloren? Verweigern sie einer demokratischen Wahl ihre Stimme? Der Bürgermeister sieht jetzt nicht mehr besorgt aus, sondern enttäuscht. „Die Leute hier“, sagt er, „haben nicht den Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.“

Die Leute hier. Vor dem Eiscafé am schmuck sanierten Marktplatz von Teuchern sind die Schlangen an diesem Wahlsonntag lang; es ist der erste Tag im Jahr, an dem die Temperaturen auf frühlingshafte 17 Grad steigen. „Gewäääählt?“ Die Frau mit den dunklen Locken zieht das Wort in die Länge, als verursache es ihr Übelkeit. „Nein, Sie können sicher sein, dass ich nicht gewählt habe.“ 55 Jahre ist sie alt, 30 Jahre hat sie im Bergbau gearbeitet, Gerätefahrer ist sie gewesen, den Rücken und die Knie hat sie sich dabei ruiniert. Vor elf Jahren dann die Kündigung, heute lebt sie von Hartz IV. Eine Lebensgeschichte, auf eine halbe Minute Sprechzeit zusammengezurrt. „Kein Politiker“, sagt die Frau, „wird an meiner Situation etwas ändern.“ Sie hat in den vergangenen Jahren alle möglichen Parteien ausprobiert, mal gab sie ihre Stimme der PDS, mal der SPD, mal der CDU. Ihr Rücken ist derweil schlimmer geworden, ihr Arbeitslosengeld geringer. Und wenn sich die Politiker nicht für sie interessieren, warum, fragt sie, soll sie sich dann umgekehrt für die Politiker interessieren? Nur weil denen einfällt, eine Wahl zu veranstalten?

„Es ändert sich sowieso nüscht“, sagt auch der 41-jährige Schlosser, der seinen Collie Lucky über den Marktplatz spazieren zerrt. Seinen Namen mag er nicht nennen. Es wäre ihm peinlich, sagt er, wenn seine Kinder, denen doch in der Schule beigebracht wird, dass das Wählen ein lang umkämpftes, geradezu heiliges Recht sei, in der Zeitung läsen, was er darüber denkt: „Nüscht“. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt ein Wahllokal aufgesucht hat, „vielleicht 1994“. Sein Leben findet auch so statt. Daher hat er sich auch nicht die Mühe gemacht herauszufinden, welche Kandidaten sich diesmal mit welchen Inhalten in Sachsen-Anhalt zur Wahl gestellt haben. „Merkel, Schröder“, murmelt der Schlosser, „das ist doch alles eine Soße, die erhöhen ihre Diäten und kürzen unser Geld.“

Es reden nicht bloß diejenigen so, die schon so viele Enttäuschungen erlebt hätten, dass sie der Politik keinen Glauben mehr schenken könnten. Die 18-jährige Abiturientin Mandy K., die bald eine Ausbildung bei der Polizei anfangen will, und ihr 23-jähriger Freund, von Beruf Lagerist „mit ordentlichem Verdienst“, wie er sagt, schlendern gut gelaunt über den Marktplatz. Sie wollen bald zusammenziehen. Noch nie in ihrem Leben waren sie wählen und haben auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Sie sehen befremdet aus, wenn man sie fragt, warum das so ist. „Wir“, sagt Mandy K. schließlich, „kommen auch so gut klar, da brauchen wir keine Politiker für.“

Wählen als pure Zeitverschwendung, als Alibiveranstaltung, als sinnentleertes Handeln. Wenn Annette Hildebrandt hört, worauf zwei Drittel der Teucherner die Bedeutung der Landtagswahl reduzieren, dann, sagt sie, „ärgere ich mich sehr“. Es ist eine zahme Kritik, geäußert von einer Frau, die erst seit Dezember in Teuchern lebt, die aber Grund hätte, mit ihren ostdeutschen Landsleuten härter ins Gericht zu gehen.

Annette Hildebrandt, 51, Pfarrerstochter, Mauerkind, DDR-Oppositionelle, heute Schriftstellerin, hat 1989 in Berlin die ostdeutsche SDP mitgegründet. „Endlich etwas machen können, selbst etwas tun, um etwas zu bewegen!“ Sie klingt noch heute beinahe ehrfürchtig, wenn sie sich an die großen Chancen der Wendezeit erinnert, das kaum fassbare Glück, die Hoffnungen auf eine wahrhaftige Demokratie. Nach Jahrzehnten der Bevormundung, der Zwangswahlen und der Einheitspartei endlich frei wählen und politisch entscheiden zu können – die Möglichkeiten des Jahres 1989 waren ein einziger Befreiungsschlag. „Ich hatte damals null Ahnung und war gehemmt, wenn die Intellektuellen um mich herum redeten“, sagt Annette Hildebrandt. Dass sie trotzdem sofort in den Parteivorstand der SDP gewählt wurde, die sich später in SPD umbenannte, dafür sorgten ihr Bruder Jörg und dessen couragierte Frau Regine. Regine Hildebrandt, die spätere Sozialministerin in Brandenburg, die politische Identifikationsfigur vieler Ostdeutscher, vor fünf Jahren ist sie an Krebs gestorben.

„Im Grunde“, sagt Annette Hildebrandt, „hat die Demokratie, kaum dass sie im Osten angekommen war, sich ab 1990 schon wieder zurückgezogen.“ Sie sagt das nicht vorwurfsvoll, eher erklärend. Es lässt sich ja auch vieles erklären: Beispielsweise, dass die Mehrheit der Ostdeutschen ein distanziertes Verhältnis zur Demokratie habe, „weil sie die Demokratie nicht erfunden haben“. Dass viele Westpolitiker nach der Wende mit ihrer Überrumpelungstaktik, ihren haltlosen Versprechungen, ihrer belehrenden Art eher abschreckend gewirkt hätten auf die Menschen hier. Dass viele Ost-Lehrer sich heute kaum trauten, im Unterricht politische Diskussionen anzuregen, weil sie Angst haben, sich noch einmal von einem System instrumentalisieren zu lassen, dessen Ideologie sich später als nicht opportun herausstellen könnte. Dass viele Menschen gelernt hätten, ihre Ansprüche herunterzuschrauben und jetzt nur noch ihre Ruhe wollten.

„Ich finde es schrecklich“, sagt Annette Hildebrandt, „dieses Wahlverhalten wird nach hinten losgehen.“ Denn wer sich der politischen Teilhabe verweigere, über dessen Interessen werde zwangsläufig entschieden. Neulich beispielsweise, erzählt sie, kam die Direktkandidatin der SPD zu einer Wahlkampfveranstaltung nach Teuchern. Es ging um Bildungspolitik. Die CDU will die einzige Sekundarschule im Ort wegen Schülermangels schließen; die SPD setzt sich für den Erhalt ein. 15 Zuhörer kamen, 15 Zuhörer des SPD- Ortsvereins, sie waren bestellt. Keine Lehrer, keine Schüler, keine Eltern. Annette Hildebrandt sagt: „Ich weiß es auch nicht mehr.“

Vor knapp vier Monaten ist sie mit ihrem Mann, dem Pastor Lothar Tautz, aus Berlin nach Teuchern gezogen. Raus aus der Stadt, rein ins Grüne, sie hatten schon seit längerem nach einem stillgelegten Pfarrhaus Ausschau gehalten. Die Kirchengemeinde Teuchern ist arm, Lothar Tautz, 55, ist jetzt ehrenamtlich als Pastor und hauptberuflich bei der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen-Anhalt tätig. Er sagt: „Es gibt hier im Land nur eine ganz dünne Schicht von gesellschaftlich Engagierten.“

Helgard Förster ist so eine. 65 Jahre ist die Rentnerin alt, sie wohnt wenige Meter vom Pfarrhaus entfernt, steht auf der Straße und schimpft mit ihrem Schwiegersohn. Der hat ihr gerade gestanden, dass er nicht wählen wird. „Arbeitslosigkeit ist überhaupt kein Grund“, herrscht sie ihn an, „Wählen ist eine Pflicht, wie glaubst du, ändert sich sonst etwas?“ Der Schwiegersohn trottet in Richtung Wahllokal, nicht aus Überzeugung, sondern um des lieben Friedens willen. „Das gibt’s doch nicht“, keift sie noch, als er schon außer Sichtweite ist, „wenn ich mal tot bin, dann sinkt die Wahlbeteiligung hier auf 20 Prozent!“