: Dunkle Blaupause
GENOZID Stark und wichtig: Die ARD-Doku „Aghet“ über den türkischen Völkermord an den Armeniern
Dass man bei einer Reise durch Deutschland eine Adolf-Hitler-Straße, eine Adolf-Eichmann-Grundschule oder ein Heinrich-Himmler-Ehrenmal sieht, liegt jenseits aller Vorstellungskraft. In der Türkei dagegen sind die Namen von Enver Pascha, Talat Pascha und Djemal Pascha noch auf diese Weise präsent. Während des Ersten Weltkriegs waren diese Regierungsmitglieder verantwortlich für den Völkermord an der armenischen Minderheit im Lande, dem bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dieser Genozid gilt als Blaupause des Holocausts.
Der Beginn des Völkermords an den Armeniern jährt sich am 24. April zum 95. Mal. Für die ARD ist das ein Anlass, heute Abend Eric Friedlers aufwendige Dokumentation „Aghet“ (armenisch für „die Katastrophe“) zu zeigen. Historiker haben die Ereignisse zwar ausführlich aufgearbeitet, der breiten Öffentlichkeit ist aber vor allem das Ausmaß der Barbarei unbekannt. Das Konzept der damaligen türkischen Regierung lautete „Vernichtung durch Deportation“: monatelange Totenmärsche aus verschiedenen Landesteilen endeten in der Wüste Syriens und der Steppe Mesopotamiens, sofern die Opfer nicht vorher massakriert wurden, verhungerten oder verdursteten.
Aus Lageberichten deutscher und amerikanischer Diplomaten sowie den Aufzeichnungen von Ärzten, Missionsschwestern und Lehrerinnen aus verschiedenen Ländern hat Friedler die eindringlichsten Passagen extrahiert, die unter anderem Axel Milberg, Martina Gedeck und Hannah Herzsprung in ganz sachlichen Interviewsituationen in Szene setzen.
Dieses „Experiment“ (Friedler) gelingt auf überwältigende Weise, weil der Filmemacher in zwei Welten zu Hause ist: Bekannt geworden ist er als Dokumentarfilmer, vor allem mit dem mehrfach ausgezeichneten Film „Das Schweigen der Quandts“, mit der er neue Erkenntnisse über die Rolle der Unternehmerdynastie Quandt im Nationalsozialismus lieferte.
Der Genozid an den Armeniern ist kein rein historisches Thema, weshalb Friedler den Bogen in die aktuelle Weltpolitik schlägt: Damals wie heute profitiert die Türkei, in deren offiziellen türkischen Geschichtsschreibung er bis heute nicht vorkommt, von der Samtpfötigkeit der Großmächte. Die Regierung des Deutschen Reichs ließ einst den Genozid geschehen, weil sie ihren Bündnispartner im Ersten Weltkrieg nicht verlieren wollte. Heute ist die Türkei wirtschaftlich und geostrategisch wichtig, hier befindet sich eine US-Militärbasis, die für Einsätze in Irak und Afghanistan von zentraler Bedeutung ist. Deshalb übt die Staatengemeinschaft kaum Druck auf die Türkei aus, den Genozid anzuerkennen.
Mit „Das Schweigen der Quandts“ sorgte Friedler dafür, dass die berühmte Industriellenfamilie sich gezwungen sah, eine wissenschaftliche Untersuchung ihrer eigenen Rolle im Nationalsozialismus in Auftrag zu geben. „Aghet“ ist filmisch so stark, dass man ihm fast zutrauen möchte, ähnliche Debatten zum Thema Völkermord an den Armeniern auszulösen. RENÉ MARTENS
■ „Aghet – ein Völkermord“, ARD, 23.30 Uhr, Wiederholung: 13. 4., Phoenix, 20.15 Uhr