Hauptsache, jemand kümmert sich

VERTRAUEN Ein Patenschaftsprojekt betreut Kinder von Alkoholkranken. Für die neunjährige Yasmin hat sich dadurch alles verändert

Das Problem: Jedes sechste Kind in Deutschland wächst in einer Suchtfamilie auf. Das sind 2.650.000 Kinder, die laut Beratungsverein Nacoa e. V. die größte Risikogruppe für eine Suchterkrankung im Erwachsenenalter stellen. Ein Drittel der Kinder aus diesen Familien werden als Erwachsene selbst suchtmittelabhängig. Ein weiteres Drittel sucht sich einen suchtkranken Partner und wiederholt so das erlernte Beziehungsmuster. Nur ein Drittel trägt kaum Beeinträchtigungen davon.

Das Kind: Die betroffenen Kinder brauchen am dringendsten Verlässlichkeit. Um resilient, also widerstandsfähig zu werden, brauchen sie sichere Beziehungen zu anderen Erwachsenen: Großeltern, Nachbarn oder Lehrern. Solche Personen vermittelt zum Beispiel das Projekt „Vergiss mich nicht“ der Berliner Diakonie.

VON SUNNY RIEDEL (TEXT)
UND JÖRG DOMMEL (ILLUSTRATION)

Neulich hat sie wieder „Mama“ zu ihr gesagt. Das ist schon mal vorgekommen. Sandra* erklärt ihrer Schwester dann, dass sie das nicht möchte. „Weil ich es nicht bin. Auch wenn Yasmin das gerne hätte.“ Der Blick der blonden Frau ist klar und direkt, kein Zweifel liegt darin. Sandra, 26, weiß, was sie ihrer neunjährigen Schwester Yasmin erlaubt, was nicht. Eigentlich ein Wunder. Sie selbst hatte nie jemanden, der ihr Grenzen aufgezeigt hat.

Letzten Sommer stand das Jugendamt vor der Haustür von Yasmins Mutter, das damals achtjährige Kind sollte von der schwer suchtkranken Frau weggeholt werden. Die aber hatte Yasmin in letzter Minute zu ihrer erwachsenen Tochter Sandra gebracht. Danach wurde die Wohnung wegen Seuchengefahr versiegelt. Für Sandra war es nicht leicht, plötzlich für ein Kind sorgen zu müssen – für die nächsten neun Jahre, dann ist Yasmin volljährig. Denn kurz nach der Intervention des Jugendamtes ist die Mutter ins Koma gefallen, ihre Organe machten den jahrelangen Missbrauch von Alkohol und Drogen einfach nicht mehr mit. Monate ist das jetzt her, die Ärzte rechnen nicht damit, dass sie je wieder aufwacht.

Aber Sandra bekommt inzwischen von anderer Seite Unterstützung in ihrer neuen Mutterrolle. Anfang Dezember wurde ihr Frau Röckler vorgestellt. Die Frau mittleren Alters ist Patin im Projekt „Vergiss mich nicht“, das vom Diakonischen Werk Berlin gegründet wurde. Es vermittelt ehrenamtliche HelferInnen in Familien mit Suchtkranken, wo sie mit den betroffenen Kindern wöchentlich etwas unternehmen. „Das können besonders schöne Dinge sein, wie in den Zoo gehen oder schwimmen“, sagt Projektkoordinator Albert Nägele, „es können und sollen aber auch Alltagsaktivitäten sein, damit das Kind Normalität erlebt.“ Hauptsache, es kümmert sich jemand.

„Das Problem ist, dass solche Kinder oft nicht gesehen werden, weil der Alkoholkranke mit seiner Sucht die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht“, erklärt Nägele. Dabei müssen gerade diese Kinder oft Ungeheures leisten. „Ältere Kinder kümmern sich neben dem Haushalt meist noch um die Geschwister, übernehmen Verantwortung, wie es eigentlich den Erwachsenen vorbehalten ist. Viele werden später in der Schule aggressiv oder sehr verschlossen oder sie entwickeln ein extremes Helfersyndrom. Es gibt verschiedene Typen. Und es gibt sehr einsame Kinder.“

Mit der Belastung stehen sie meist ganz allein da. Sie denken oft, dass sie niemandem verraten dürfen, dass Vater oder Mutter trinken. Doch die Kinder brauchen ein Ventil, eine Vertrauensperson. Manche finden das bei ihrer Oma oder in der Nachbarin. Andere vertrauen sich ihrem Lehrer an oder bekommen in einem Sportverein die Anerkennung, die ihnen zu Hause fehlt. Für die, die niemanden haben, bietet „Vergiss mich nicht“ eine Patin.

Für Frau Röckler gibt es keine schönere Art, ihre Freizeit zu investieren. Sie war selbst lange mit einem Alkoholiker verheiratet, auch deshalb stellt sie keine blöden Fragen oder hebt den Zeigefinger. Von Anfang an hat Yasmin Vertrauen zu ihr gefasst. Einmal in der Woche verbringen die beiden Zeit miteinander, dann kochen sie oder gehen spazieren. Vor allem reden sie miteinander. So viel Vertrautheit ist im Patenprogramm eigentlich gar nicht vorgesehen. Frau Röckler ist ein absoluter Glücksfall für beide Schwestern und so etwas wie die Ersatzoma geworden.

So optimal läuft die Patenvermittlung nicht immer. Sehr sorgfältig prüft die Diakonie, ob sich die Patin und die Familie verstehen. Die Eltern müssen begreifen, dass die Patin sie keinesfalls ersetzen soll. Andererseits muss die Patin auch Verständnis haben für die Verhältnisse. Sie darf nicht entsetzt reagieren, wenn sie das Kind nach Hause bringt und die Mutter besoffen auf der Couch liegt. Schließlich ist das die Realität des Kindes.

Die Eltern müssen begreifen, dass die Patin sie keinesfalls ersetzen soll

Spritzen, Fremde, Müll

Yasmin wird ihre Mutter so nicht mehr vorfinden. Zwei-, dreimal hat sie sie noch im Krankenhaus besucht, zusammen mit ihrer Schwester Sandra. Die schaut regelmäßig auf der Intensivstation vorbei. Einmal hat sie von ihrem knappen Hartz-IV-Einkommen 20 Euro für die Fußpflege der Mutter abgezwackt. „Irgendjemand muss das doch machen“, sagt sie. Um sie selbst hat sich die Mutter kaum gekümmert. Als Kind wuchs Sandra zwischen herumliegenden Spritzen, fremden Leuten und Müll auf. Mit einer CD-Hülle hat sie damals versucht, den Dreck wenigstens aus „ihrer Ecke“ rauszuhalten. Irgendwann vertraute sie sich einer Lehrerin an. „Ich habe viel gesehen, was ich Yasmin ersparen möchte“, sagt sie heute.

Ihre Anstrengungen tragen Früchte. Yasmins Schulleistungen haben sich im letzten Halbjahr enorm verbessert, sieben Einser und nur zwei Dreier standen im Zeugnis. Die Kleine war unendlich stolz. Und dankbar für die Zuwendung. Sie wird es wiedergutmachen, hat sie zu Frau Röckler gesagt. „Sie sagte: Heute sorgst du für mich. Aber wenn du mal ganz alt bist, dann sorge ich für dich.“

*Alle Namen wurden geändert