: Hope auch ohne Dope: mehr als bloß Wirkstoffe
GESUNDHEIT Dauermedikation lautet die beliebte Antwort auf chronische Schmerzen. Multimodale Schmerztherapie dagegen setzt auf Ganzheitlichkeit: Das kann auch heißen, dem Patienten erst mal zuzuhören. Die psychosoziale Situation rückt in den Fokus
VON VERENA MÖRATH
Das tut weh: Mindestens fünf bis acht Millionen Menschen sollen hierzulande an behandlungsbedürftigen chronischen Schmerzen leiden, so aktuelle Schätzungen. Viele von ihnen können nur noch eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Betroffene stehen oft unter Dauermedikation mit Schmerzmitteln, nicht selten mit Opiaten. Dabei gibt es durchaus Alternativen – etwa die „multimodale Schmerztherapie“. Diese wird durch Spezialistenteams durchgeführt – darunter auf Schmerz spezialisierte Ärzte, Psychologen, Pflegekräften, Physio- und Sporttherapeuten, aber auch Sozialarbeiter. Das Berliner Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe bietet in seinem Schmerzzentrum seit 2006 solche Therapieplätze an.
„Das Angebot richtet sich insbesondere an Menschen, bei denen bisherige Ansätze der Schmerztherapie erfolglos geblieben oder im ambulanten Rahmen die Möglichkeiten zu riskant sind“, erklärt Michael Schenk, leitender Arzt und Mitbegründer des Schmerzzentrums. „Manche unserer Patienten leiden schon zehn oder gar zwanzig Jahre an chronischen Schmerzen“, erzählt er. Sie kommen unter anderem mit Migräne und Kopfschmerzen, mit Nerven-, Rücken-, Gelenk- oder Tumorschmerzen. Sie sind verzweifelt, gefangen in ihren Schmerzen, viele depressiv. 450 solcher Patienten behandeln Michael Schenk und sein interdisziplinäres Team jährlich.
Noch vor der Einweisung führen die Ärzte mit den Schmerzpatienten ein mehrstündiges Gespräch. „Im Mittelpunkt der Anamnese stehen nicht der Schmerz und die medizinischen Befunde, vielmehr die psychosoziale Situation und die persönliche Geschichte“, sagt Schenk. „Die meisten machen zum ersten Mal die Erfahrung, dass ihnen jemand zuhört.“ Aber keiner hier verspreche, dass ihre Schmerzen ganz verschwinden. „Wir helfen den Patienten, ihre Autonomie zu stärken, eigene Ressourcen zu aktivieren, um neue Zukunftsperspektiven zu entwickeln“, so der Schmerzspezialist.
„Wir setzen auf eine Synthese aus anthroposophischer und sprechender Medizin und anerkannten schulmedizinischen Verfahren“, betont Michael Schenk. Wie in anderen professionellen Schmerzzentren wende die Anthroposophische Klinik Havelhöhe Entspannungstechniken, Schmerzbewältigungstrainings, Verhaltenstherapie, psychoedukative Verfahren, Einzel- und Gruppenpsychotherapie an. Auf Medikamente wird nicht verzichtet. „Wir geben Schmerzmittel dort, wo es sinnvoll ist“, so Schenk. Aber zusätzlich zu bewährten schulmedizinischen Verfahren beinhaltet hier die Behandlung Mal- und Musiktherapie, Plastizieren, Rhythmische Massage und Heileurythmie.
„In der Heileurythmie, einer künstlerischen Bewegungstherapie, geht es darum, wieder Räume in sich zu entdecken, die schmerzfrei sind“, erklärt Eurythmietherapeut Hartmut Stickdorn. Viermal pro Woche übt er mit den Schmerzpatienten Körper-, Wahrnehmungs- und Sinnesübungen ein, Betroffene sollen sich ihrer Schonhaltungen bewusst werden und diese ändern. „Für einen Moment, vergesse ich hier meine Schmerzen“, meint Angela Zagermann erleichtert, als die Sitzung vorbei ist. Die 55-jährige Justizbeschäftigte aus Spandau ist seit knapp einer Woche hier.
Vor sieben Jahren hatte sie fünf Bandscheibenvorfälle auf einen Schlag. Eine Operation wollte sie nicht und nahm eine kräftezehrende konservative Therapie auf sich. Ein Jahr lang und mit Erfolg. Dann aber setzten 2011 bei ihr Migräneschübe und starke Kopfschmerzen ein, eines Tages konnte sie ihre linke Körperhälfte nicht mehr bewegen. „Eine Tüte Brötchen wogen gefühlte 100 Kilo, ich konnte meinen Kopf nicht mehr drehen“, erzählt sie. Zwar wurde sie nach einem halben Jahr wieder eingeschränkt arbeitsfähig, aber die Schmerzen blieben. An manchen Tagen könne sie nicht mal aufstehen. „Ich glaube zwar nicht, dass ich je wieder schmerzfrei sein werde. Aber ich lerne hier, aktiv dagegen anzukämpfen, dass die Schmerzen mein ganzes Leben bestimmen.“ Ein Schlüsselerlebnis für sie sei die Maltherapie, denn das Malen helfe ihr loszulassen. „Das werde ich zu Hause weitermachen“, plant Angela Zagermann.
„Der Aufenthalt hier ist ein Türöffner und keine Wunderheilung“, resümiert Michael Schenk. Aber die meisten Patienten würden nach der Behandlung bestätigen, dass es ihnen besser gehe. Mittels Fragebögen wird nach einem halben Jahr nochmals nachgefragt: Über die Hälfte der ehemaligen Patienten geben dann noch an, dass ihre Situation insgesamt positiver geblieben sei. „Das ist ein Erfolg“, freut sich Michael Schenk und kritisiert in einem Atemzug, dass es in vielen Teilen Deutschlands eine Unterversorgung für multimodale Schmerztherapien gebe. Auch die Auswertung von Abrechnungsdaten aus den Jahren 2006 bis 2010 der Barmer GEK beispielsweise ergab, dass gerade mal 0,15 Prozent der chronischen Schmerzpatienten eine multimodale Schmerztherapie erhalten. In Berlin, so Michael Schenk, gebe es nur rund 60 solcher Therapieplätze. 16 davon bietet das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe an.
■ Rat und Hilfe im Netz: www.havelhoehe.de/Schmerzzentrum.html Deutsche Schmerzgesellschaft (DGSS): www.dgss.org Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e. V.: www.dgschmerztherapie.de