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Die über Steine stolpert

aus Krefeld LUTZ DEBUS

Natürlich hat sie „Das Tagebuch der Anne Frank“ gelesen. Aber sie sei nicht mit ihr verwandt. Ruth Frank sitzt bei einer Tasse Tee in ihrem Wohnzimmer, einem englisch anmutenden Salon in einer Neubauwohnung im Norden von Krefeld. Die Augen der älteren Dame lächeln kurz über den Rand ihrer Brille. Nein, ihre Geschichte sei ja doch auch eine ganz andere. Sie habe überlebt.

Seit ihre Heimatstadt durch den Ratsbeschluss, keine „Stolpersteine“ auf öffentlichen Flächen zuzulassen, in die Schlagzeilen geraten ist, wird Ruth Frank von Reportern oft nach ihrer Meinung gefragt. Schließlich ist sie eine der wenigen vor dem Krieg in Krefeld geborenen Jüdinnen, die jetzt noch in dieser Stadt lebt. Immer wieder beteuert sie, wie wichtig und richtig sie diese Art des Gedenkens findet. Dabei vertritt sie offensiv eine andere Meinung als die der Jüdischen Gemeinde zu Krefeld, die diese Kunstaktion ablehnt. Ruth Frank ist inzwischen schon im Fernsehen interviewt worden. Nach ihrer eigenen Lebensgeschichte wurde sie aber nicht gefragt.

Ruth Frank hält inne, schließt ihre Augen, legt ihre Hände auf die Tischplatte. „Ich bin ein Mischling,“ sagt sie leise. Ihre Mutter kam aus einer protestantischen Familie. Seidenweber. Davon gab es in Krefeld viele. Und der Vater war Jude. Die Franks sind seit etwa 300 Jahren in Krefeld ansässig. Viehhändler und Metzger, wie viele rheinische Juden früher. Der Vater von Ruth Frank war Handelsvertreter, verkaufte Seidenkrawatten. Und Frontsoldat war er von 1914 bis 1918. Stramm deutschnational gesinnt. Nach dem Krieg gründete er mit dem Schwager einen florierenden Großhandel. Wieder Seidenkrawatten.

19, 21 und 23 Jahre alt waren die Geschwister, als Ruth als Nesthäkchen im April 1933 zur Welt kam. Natürlich wurde es mit dem Geschäft schon schwerer. Aber es gab noch viele treue Kunden. Doch dann kam der 9. November 1938. „Da haben betrunkene SA-Männer den ganzen Laden zertrümmert.“ Ruth Franks Lächeln zittert. Vater und Geschwister wurden festgenommen. Mutter und die kleine Ruth blieben frei. Die Geschwister wurden Tage später entlassen. Sie konnten Dokumente ihrer geplanten Auswanderung vorweisen.

Tatsächlich flohen die drei kurz vor Kriegsbeginn nach Kenia. Der Vater aber dachte nicht an Emigration. Einem Träger des Eisernen Kreuzes, so seine Überzeugung, passiere nichts. Er musste mit anderen Juden im Krefelder Forstwald Zwangsarbeit verrichten. Körperlich ausgemergelt erlitt er einen Herzinfarkt, kein Arzt behandelte ihn. So starb Ruth Franks Vater im August 1942 ohne medizinische Hilfe. Sein Leichnam wurde mit einem Handkarren zum Jüdischen Friedhof gebracht. Sie kann sich genau an jenen Tag erinnern.

Nach dem Tod ihres Mannes beschloss die Mutter, die inzwischen 9-Jährige taufen zu lassen. Doch der evangelische Pastor lehnte dies ab. Das Kind sehe zu jüdisch aus. Dunkle Augen, dunkle Haare. Völlig aufgelöst erzählt die Mutter dies ihren Nachbarn. „Ihre fromme Schwester fragte den Kaplan Frings. Und der hat mich getauft.“ Ruth Frank empfing am 3. Juni 1943 die Heilige Kommunion. In diesen Monaten wurde das Elternhaus durch eine Fliegerbombe zerstört.

Ruth Frank musste trotz Taufe den Judenstern tragen. Offiziell bezeichnete man sie wegen ihrer Erziehung und Abstammung als „Geltungsjude“. So war es nur eine Frage der Zeit, wann das Mädchen deportiert wurde. Mit Hilfe des Kaplans aber wurde Ruth Frank versteckt. Bei der Tante Bertha, die natürlich nicht ihre Tante war, lebte sie im kleinen Dorf Mausbach bei Aachen. Tante Bertha besorgte ihr trotz Kriegswirtschaft ein weißes Sommerkleid mit blauen Blumen drauf. Aber weil Tante Bertha streng katholisch war, musste das Mädchen dazu dicke lange Wollstrümpfe tragen. Nackte Mädchenbeine waren verboten. Später versteckte der Kaplan Ruth Frank in einem kleinen Dorf in der Eifel. Da gab es noch ein anderes Mädchen in Ruths Alter. Das „Bärbchen“ war tatsächlich nur vor den Bombenkrieg im Ruhrgebiet geflohen. Doch zu zweit war es weniger einsam. Und weniger verdächtig.

Als die Front näher rückte, musste Ruth Frank zurück nach Krefeld. Im Keller des Hauses des Kaplans erlebte sie die Bombennächte. „Ich habe mehr Angst vor den Nazis“, flüsterte in einem stillen Moment die Mutter der Tochter zu. Dann, endlich, am 2. März 1945, wurde Krefeld von amerikanischen Truppen befreit. Mutter und Tochter hockten mit tausenden anderer Menschen im Bahnhofsbunker. „Als der erste GI mit seiner Maschinenpistole in den Bunker kam, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Und überall auf dem Boden lagen die eilig abgerissenen Parteiabzeichen rum.“ Ruth Frank blickt verächtlich auf ihren Teppichboden, so als könne sie die kleinen Hakenkreuze noch heute sehen. „Aber es gab auch viele, die mir geholfen haben. Das darf man nicht vergessen.“

Eine der schönsten Zeiten ihres Lebens begann. Trotz der Trümmer. Sie durfte sich frei bewegen. Mit Kindern spielen. Und lernen. Im Herbst wurde die 12-Jährige eingeschult. Sie hatte sogar ein eigenes Fahrrad. Statt Reifen war mit Draht Gartenschlauch an den Felgen befestigt, aber es fuhr. Doch wovon sollte sie leben? Ihre älteren Geschwister, für sie inzwischen Fremde, holten sie und die Mutter nach Kenia. Dort besuchte Ruth Frank ein Internat. Und litt unter Heimweh, wollte so gern zurück nach Krefeld. Nach dem Abitur studierte sie Medizin in London. „Wähle dir einen Beruf, den man in den Händen und im Kopf mitnehmen kann“, habe ihr der Vater kurz vor seinem Tod gesagt. Für ihn, den Kaufmann ohne Laden, gab es niemanden mehr, der helfen konnte. Vielleicht ist die Tochter auch deshalb Ärztin geworden. Bis zum Rentenalter arbeitete Ruth Frank als Anästhesistin in einem Krankenhaus in Birmingham. Doch 1998 kehrte sie nach Krefeld zurück.

Kurz nach ihrer Ankunft meldete sie sich bei der Jüdischen Gemeinde. Doch die, so erinnert sich Ruth Frank, hatten wenig Interesse an der Zurückgekommenen. Erst nach einigen Anrufen reagierte man, gab ihr die Adresse einer städtischen Seniorenstelle. Dort könne man ihr sicher helfen, falls sie Probleme habe. Ruth Frank fühlte sich missverstanden und war gekränkt. Sie wollte keine Hilfe haben. Sie wollte helfen. Dann besuchte sie das Grab ihres Vaters. Der Teil des Jüdischen Friedhofs, auf dem die 22 Gräber der während des Faschismus Gestorbenen lagen, war in einem erbärmlichen Zustand. Alles war voller Unkraut und Müll. Ruth Frank bat die Jüdische Gemeinde um Unterstützung. Doch diese fühlte sich nicht zuständig. So bestellte die Rentnerin auf eigene Kosten einen Steinmetz, um die 22 Grabmäler zu richten. Mit einer Freundin, Ilse Kassel, einer KZ- Überlebenden, entfernte sie den Unrat, harkte sie, pflanzte Blumen. Doch Ilse Kassel, über 80 Jahre alt, kann nun nicht mehr. Die beiden Frauen wandten sich wieder an die Jüdische Gemeinde. Ob jemand die Grabpflege übernehmen wolle. Vergebens.

Warum die Jüdische Gemeinde sich gegen die Stolpersteine ausspricht, kann sie nur vermuten. Es gebe Freundschaften zwischen der Gemeinde und Ratsherren der regierenden Parteien. CDU und FDP hätten ein großes Interesse, die Hausbesitzer zu schützen, vor dessen Immobilien die Stolpersteine verlegt werden. Manche dieser Hausbesitzer könnten Nachkommen von Nazis sein, die sich an dem Eigentum der Krefelder Juden bereicherten. „Da wird sich noch manches entpuppen“, sagt Ruth Frank. Dann steht sie auf. Ehrenamtlich arbeitet sie in einem Heimatmuseum. Alte Webstühle werden ausgestellt. Und Ruth Frank verkauft den Touristen Seidenkrawatten. Zum Abschied lacht sie: „Das ist doch ein Witz!“

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