: Viele kleine Brötchen backen
In Berlin und Brandenburg wird munter gegründet – nicht zuletzt, weil Arbeit fehlt. Kleinunternehmer sollen die Region stärken. So viele Newcomer wie 2005 hat es seit 13 Jahren nur einmal gegeben. Doch nicht alle überstehen die Startphase
VON MIRKO HEINEMANN
Susann Güngör hat es geschafft. Ihre Ich-AG ist jetzt im dritten Jahr, sie bekommt nur noch wenige Monate staatliche Förderung. Doch die Gründerin ist sicher, dass ihr kleines Unternehmen überleben wird. Sie hat sich mit einer Feng-Shui-Beratung selbstständig gemacht, sie plant, oft in Zusammenarbeit mit Innenarchitekten oder Gartengestaltern, wie Möbel oder andere Einrichtungsgegenstände in Wohnungen oder Büros anzuordnen seien, um Wohlfühleffekte zu erreichen. Ihr Angebot, so Güngör, „wird vom Studenten bis zum Rechtsanwalt“ in Anspruch genommen.
Für die Region Berlin-Brandenburg sind Erfolgsgeschichten überlebenswichtig. In Berlin lag die Arbeitslosenquote im Februar 2006 bei 18,7 Prozent, in Brandenburg bei 19,2. Schwacher Trost: Im Vorjahr lagen die Zahlen um rund ein halbes Prozent höher.
Der Gründergeist ist ungebrochen. 2005 nahm die Zahl der Unternehmen in Berlin um etwa 11.000 zu, ein Drittel davon wurde von Frauen gegründet. Das ist der zweithöchste Wert seit 1993. Die Gesamtrechnung sieht so aus: 44.000 meldeten ein Gewerbe neu an, 33.000 meldeten wegen Insolvenz oder Geschäftsaufgabe ab. Christoph Lang, Sprecher der Senatsverwaltung für Wirtschaft, sieht das Erfolgsrezept für Wirtschaftswachstum in Berlin in einer „gesunden Mischung aus Gründern und großen Unternehmen“. Aber: „Diejenigen Gründer, die überleben, schaffen überdurchschnittliches Wachstum. Aus zwei Arbeitsplätzen werden dann schnell zehn, das schaffen große Unternehmen heute nicht mehr.“
Auch in Brandenburg wird munter gegründet. Hier kann man den Quartalszahlen entnehmen, wie wichtig die Rolle der staatlichen Förderung ist. Nach einem vergleichsweise starken zweiten Halbjahr 2004 mit einem Überschuss von rund 7.000 Anmeldungen sank die Zahl der Neugründungen im ersten Halbjahr 2005 auf 3.000 ab. Der Grund: Die Zugangsvoraussetzungen zur Ich-AG waren verschärft worden. Wurden in den Anfangstagen viele Unternehmensideen ohne genauere Prüfung von der Arbeitsagentur durchgewinkt, mussten geförderte Gründer ab 2005 einen tragfähigen Businessplan vorgelegen (siehe auch Seite III.)
Von „positivem Gründungsgeschehen“ ist beim Wirtschaftsministerium Brandenburg die Rede, das sich auf „hohem Niveau“ fortsetze. Zu der Rolle des Staates heißt es: „Die Entwicklung wurde dabei wesentlich durch die Reformen auf dem Arbeitsmarkt (Förderung von Ich-AGs und Existenzgründungen) gestützt.“ Auch in Berlin sieht der Arbeitskreis „Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder“ die Ursache für die leicht abnehmende Arbeitslosigkeit in der Einführung der Hartz-Gesetze, neben Minijobs und Ein-Euro-Jobs habe die staatliche Förderung von Existenzgründern Jobs geschaffen.
Wie tragfähig Existenzgründungen sind, hängt nicht nur von den Rahmenbedingungen und der Unternehmensidee ab, sondern auch vom Selbstbewusstsein der Gründer. In dieser Beziehung scheint die Region Berlin-Brandenburg auf dem aufsteigenden Ast. Laut Senatsverwaltung für Wirtschaft hat sich die Stimmung in der Berliner Wirtschaft in jüngster Zeit „erheblich verbessert“, der Konjunkturklimaindex der Industrie- und Handelskammer in Berlin und Brandenburg erreichte den höchsten Wert seit zehn Jahren.
Dass viele Gründer die Selbstständigkeit als einzigen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit sehen, belegt die Zahl der geförderten Gründungen, die in der Regel aus der Arbeitslosigkeit heraus erfolgen. Hier entpuppen sich vor allem die Dienstleistungen als beliebte Zielbranche, wie Karina Schulze von der Arbeitsagentur Mitte feststellt: Immobiliengewerbe, Gaststätten, Kultur, Sport und Unterhaltungsindustrie. Dabei halten viele Ich-AGs zumindest das erste Jahr durch; die Arbeitsagentur Mitte verzeichnet in diesem Zeitraum nur rund drei Prozent Abbrecher, bei Überbrückungsgeld sind es noch weniger.
Das Handwerk bleibt laut Industrie- und Handelskammer IHK ebenfalls eine „tragende Säule“ der Berliner Wirtschaft: Der Bestand der bei der IHK eingetragenen Handwerksbetriebe nahm 2004 im Vergleich zum Vorjahr um 11,5 Prozent auf 30.676 zu. Allerdings beziehen sich über die Hälfte der Neuanmeldungen auf das so genannte zulassungsfreie Handwerk. Zum 1. Januar 2004 wurden 53 Berufe per Gesetz „zulassungsfrei“, das heißt, Betriebsgründer müssen weder einen Meisterbrief noch eine sonstige Qualifikation nachweisen. Dazu gehören Fliesenleger, Schneider, Fotografen und Gebäudereiniger, deren Zahl an Neuanmeldungen denn auch 2004 rasant anstieg.
Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass der Gründergeist auch hier vielfach aus der Not geboren ist: Zwar erhöhte sich die Anzahl der Handwerksbetriebe, die Zahl der Beschäftigten nahm jedoch im gleichen Zeitraum um rund zwei Prozent ab. Hintergrund: Großbetriebe bauen sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter ab, die wiederum keine andere Wahl haben, als sich entweder arbeitslos zu melden oder sich selbstständig zu machen.
Susann Güngör jedenfalls hat ihre Existenzform gefunden, auch wenn es manchmal Flauten gibt: „Im Winter gibt es weniger Umzüge, weniger Leute richten ihre Wohnungen ein, und mein Geschäft läuft schlechter. Aber daran habe ich mich gewöhnt.“ Immer mehr Menschen werden sich „daran gewöhnen“ müssen. Das Zeitalter der Angestellten ist vorbei, die Ära der Gründer ist angebrochen.