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Archiv-Artikel

Autonomie macht traurig

Wie kann das Kino den Fallen der Fetischisierung entgehen, wenn es die Jugend feiert? Morgen startet im Arsenal eine Reihe mit Filmen von Jacques Doillon, der seit den frühen Siebzigerjahren Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden zeigt

VON BERT REBHANDL

Frédéric, ein französischer Mann, lebt in Marokko als Libertin hinter Mauern. Die einheimischen Frauen, die ins Haus kommen, versorgen ihn mit allem, was er braucht. Der Franzose zahlt für Sex wie für ein gutes Essen. Die Frauen sind provokant in ihrer Schönheit, scheinen die Spielregeln zu beherzigen. Aber das ist nur ein Anschein.

Denn Jacques Doillon untersucht in seinem Film „Raja“ die Situation eines privilegierten Weißen in einer weiblich-muslimischen Kultur, mit allen prekären Implikationen. Von beiden Seiten, sowohl von der jungen Raja wie von Frédédric, kommen Gefühle ins Spiel. Aber sie sind für das Gegenüber kaum zu verstehen. Und so verstrickt sich der Mann immer mehr in Missverständnissen. Er will mit Geld aufwiegen, was er mit Gesten verursacht hat. Er verursacht Verletzungen und erleidet sie auch.

Es gibt in „Raja“ keinen Standpunkt, der über den Kulturen liegen würde. Doillon folgt den Fährnissen eines kultivierten Franzosen mit dem Blick eines kultivierten Franzosen, während er die marokkanischen Frauen so filmt, wie er in seiner ganzen, langen Karriere die Jugendlichen beobachtet hat – vorurteilslos und nie eingemeindend. Kein anderer französischer Filmemacher scheint einen so privilegierten Zugang zur Adoleszenz zu haben wie Doillon.

Das mag damit zu tun haben, dass Doillon die Riten des Übergangs dort sucht, wo sie gerade erst im Entstehen begriffen sind. In der Geschichte einer Vierjährigen, die um ihre Mutter trauert, schloss er 1996 von einem Wunsch ganz einfach auf ein Wunder und behauptete dann, „Ponette“ wäre eigentlich ein Dokumentarfilm. Das trifft in gewisser Weise auf die meisten seiner Filme zu, die das Arsenal im April unter dem Titel „Autorenkino und Filmschauspiel“ zeigt.

1974 brachte er mit „Les doigts dans la tête“ („Die Finger im Kopf“) seinen ersten Spielfilm heraus, über einen kleinen Arbeiteraufstand im Jugendzimmer. Seither hat Doillon kontinuierlich an seinem Ruf als Auteur gearbeitet: In seinem vielleicht bekanntesten Film „Die Piratin“ (1984) spielte Jane Birkin die Hauptrolle, auch mit Charlotte Gainsbourg hat er gedreht. Die Sensibilität, die man ihm zuschreibt, resultiert aus konzentrierter Arbeit mit zum Teil nichtprofessionellen Akteuren.

Adoleszenz ist Arbeit

Die Milieustudie „Petits frères“ (1998) beginnt umstandslos in einem Stadtteil mit dem Namen Belleville. Plötzlich ist der Stiefvater wieder da, und die zwölfjährige Tyson (Stéphanie Touly) hat keine andere Wahl: Sie muss weg, hinaus aus der Wohnung, die dieser unerträgliche Mann beinahe allein ausfüllt mit seiner negativen Energie. Es dauert einige Tage, bis Tyson zurückkehren kann. In dieser Zeit wird sie erwachsen – und doch wieder nicht. Denn „Petits frères“ sucht seine Geschichte genau an dieser Grenze: zwischen Kinderkram und Jugendkultur, zwischen Streichen und Straffälligkeit, zwischen einer Freiheit, die sich noch auf die Rückendeckung der Erwachsenen verlassen kann, und der traurigen Autonomie junger Menschen, die vor dem Gesetz bereits für ihre Taten einstehen müssen. Die Großen, sie sind um die sechzehn, haben alles im Griff. Die „kleinen Brüder“ sind drei, vier Jahre jünger; sie erarbeiten sich gerade ihre sozialen Kompetenzen.

„Petits frères“ lässt sich leiten von den flexiblen Gruppenbildungen in den Hochhäusern, die in einem Grüngürtel liegen und als temporäre autonome Zone entworfen werden: Hier gelten Gesetze nach Maßgabe jugendlicher Unbekümmertheit. „Petits frères“ ist mit sehr beweglicher Kamera gedreht, immer nahe an den Figuren. Doillon macht Tempo, als könnte er dadurch den Fallen der Fetischisierung entgehen, die immer droht, wenn das Kino die Jugend feiert.

„Petit frères“ könnte auch „L’amitié“ heißen, in direkter Antwort auf den bekannten Banlieue-Film „La haine“. Doillon kehrt die naturalistische Milieutheorie von Mathieu Kassovitz in ihr Gegenteil: Die jugendlichen Bewohner der Vorstädte lassen sich gerade nicht so leicht festlegen. Sie schlagen Haken; wenn die Sache zu ernst wird, kehren sie zu dem zurück, was ihr ureigenstes Element ist: Sie spielen, zum Beispiel die Selbstverwaltung des Glücks. Das jüdische Mädchen Tyson heiratet am Ende den Muslim Illiès (Illiès Sefraoui), die Hochzeitsgesellschaft ist ein bunter Haufen, und das Brautkleid stammt aus einem kleinen Diebstahl, einem jener „dèlits flagrants“, deren gerichtliche Folgen der Dokumentarfilmer Raymond Depardon vor wenigen Jahren protokolliert hat. „Petits frères“ verweigert diesen Schritt in die Soziologie und endet mit utopischen Anklängen. Das Recht darauf ist bei Jacques Doillon verdient durch eine Präzision, die er der Freiheit seiner Darsteller abgewinnt.

Die Doillon-Filmreihe, 1. bis 30. April, Kino Arsenal. Programm unter www.fdk-berlin.de