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Archiv-Artikel

Teure Flucht nach Europa

GESCHÄFTE Flüchtlinge aus Syrien müssen horrende Summen zahlen, um übers Meer nach Italien zu gelangen. Doch dort wollen sie selten bleiben

ROM taz | „Emergenza“: Wieder fällt in Italien das Wort vom Flüchtlings-„Notstand“, der in Sizilien, Kalabrien und Apulien herrsche. In den ersten Septembertagen kamen 700 Menschen auf Schiffen übers Mittelmeer, die meisten aus Syrien. Nach je einigen hundert syrischen Asylsuchenden 2011 und 2012, kamen jetzt etwa 3.000 Flüchtlinge in den ersten acht Monaten an, 1.600 davon allein im August.

Christopher Hein, Direktor des italienischen Flüchtlingsrates CIR, nennt vier wichtige Routen: Die Überfahrt beginnt im Libanon, in der Türkei, in Ägypten oder in Libyen. Und kostet teils horrende Summen: Die Passage aus dem Libanon kostet 8.000 bis 9.000 Euro, „meist zahlen das Verwandte, die schon im Ausland leben“.

In die Rede von einem drohenden „Notstand“ will Hein nicht einstimmen; allein schon wegen der exorbitanten Kosten wird bloß ein Bruchteil der mittlerweile über zwei Millionen geflohenen Syrer den Seeweg nach Europa – und das heißt: vor allem nach Italien – antreten werden.

Dennoch könnte sich durchaus die Situation von 2011 wiederholen. Damals kamen im Gefolge des arabischen Frühlings zunächst etwa 25.000 Tunesier nach Lampedusa; ihnen folgten weitere 25.000 Flüchtlinge, vor allem aus Schwarzafrika, die über Libyen kamen. Vor zwei Jahren inszenierte die Regierung Berlusconi gezielt den „Notstand“, ließ die Insel Lampedusa förmlich von Flüchtlingen überquellen, statt sie zügig aufs Festland zu bringen, um so Druck auf Europa auszuüben.

Eine ähnliche Inszenierung auf dem Rücken der Flüchtlinge ist diesmal nicht zu erwarten – erneut aber dürfte die italienische Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Aufnahmepolitik wieder laut werden, wenn die Zahl der eintreffenden Syrer weiter steigt.

In diesem Punkt trifft sich Italien übrigens mit den Syrern. „Die meisten wollen weiter, schon allein, weil es in Italien keine syrische Community gibt“, sagt Hein; stattdessen seien Länder wie Deutschland oder Schweden die eigentlichen Reiseziele. Er weiß von Fällen, in denen die Flüchtlinge – ein Drittel davon Minderjährige, meist ohne Begleitung – sich weigerten, ihren Fingerabdruck abzugeben: Sie wollen damit verhindern, dass sie mit Italien als Ersteinreisestaat registriert werden, denn dies hieße, dass sie nur hier Asyl beantragen können.

Noch aber nimmt die italienische Öffentlichkeit von dem neuen Drama an den Küsten des Landes kaum Kenntnis. Aufmerksamkeit erregte der Zustrom bisher nur mit dem Fall einer bei der Überfahrt gestorbenen Syrerin. Ihre Angehörigen stimmten der Organspende zu – und die rettete drei Italienern das Leben. MICHAEL BRAUN