: Woher dieser Hass?
Die 23. Kammer des Pariser Strafgerichts. Die Vorsitzende Richterin Elisabeth Boccara verurteilt im Schnellverfahren junge, angeblich gewalttätige Demonstrationsteilnehmer. Manche offensichtlich zu Recht – andere, an deren Schuld man zweifeln könnte. Doch dafür hat Frau Boccara keine Zeit
AUS PARIS DOROTHEA HAHN
„So viele Schläger wie möglich festnehmen“, hat Innenminister Nicolas Sarkozy seine Polizisten angewiesen. „Strenge beweisen“, hat sein Kollege, Justizminister Pascal Clément, die Staatsanwälte per Rundschreiben aufgefordert, „notfalls in Berufung gehen.“ Beide versprechen, dass sie dem brutalen Treiben der Jugendbanden ein Ende setzen wollen. In Paris sind in den vergangenen Tagen mehrfach Jungen, nach Augenzeugenberichten auch Mädchen, über gleichaltrige Demonstranten hergefallen. Haben sie brutal zusammengeschlagen. Ausgeraubt. Und Geschäfte geplündert. Die Polizei spricht von „mehr als 2.000 Schlägern“. Am vergangenen Dienstag waren drei Millionen Menschen gegen den „cpe“ auf die Straße gegangen, gegen den so genannten Erstvertrag, der Unternehmern erlauben soll, jungen Beschäftigten in den ersten zwei Jahren ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Am Dienstag nahm die Polizei allein in Paris 629 Personen fest.
Die Ersten treten am Donnerstagnachmittag in die hölzerne Box der 23. Kammer des Pariser Strafgerichtes. Es sind blasse junge Männer, die nach zweitägiger Polizeihaft zu ihrem kurzen Prozessen kommen. Gymnasiasten, Studenten, junge Berufstätige. Die jüngsten sind 18. Die ältesten 27. Die meisten wohnen noch bei den Eltern. Ihre Mütter und Väter sitzen im Saal. Sie sehen die Angeklagten seit der Festnahme zum ersten Mal. Die 23. Kammer ist auf Schnellverfahren spezialisiert. Auf Täter, die in flagranti erwischt und 48 Stunden danach verurteilt werden.
Alle zwanzig Minuten bringt ein Polizist mit Lederhandschuhen einen neuen Angeklagten in den Gerichtssaal. Jedes Mal verliest die Vorsitzende Richterin Elisabeth Boccara Polizeiprotokolle, in denen der Satz vorkommt: „Individuum wirft Steine, Stöcke und Büchsen auf Polizisten.“ Jedes Mal lautet die Anklage „Rebellion“. Und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Jedes Mal plädiert Staatsanwalt Abdel Akim Mahi auf dieselbe Strafe, „zwei Monate Haft“.
Die Angeklagten sehen aus und reden, wie alle jungen Franzosen, die seit Wochen demonstrieren. Sie können erklären, warum sie gegen den „cpe“ sind. Vor der Justiz als Institution zeigen sie Respekt. Aber im Umgang mit ihr haben sie keine Erfahrung. Keiner ist als gewalttätig bekannt. Keiner wirkt, als wolle er Demonstrationen für Beschaffungskriminalität benutzen.
Ein angehender Landschaftsgärtner erklärt: „Als Buddhist bin ich strenger Pazifist.“ Ein Student hält seine Hände vor das Gesicht und sagt schluchzend: „Ich habe Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen.“ Ein anderer versichert immer wieder: „Ich bin stolz, Franzose zu sein.“ Ein Schüler erklärt das Taschenmesser, das die Polizei bei ihm gefunden hat, damit, dass er sich notfalls gegen Überfälle von Schlägern verteidigen wollte: „Bei der vorausgegangenen Demonstration ist eine Freundin überfallen und krankenhausreif geschlagen worden.“
„Hier liegt ein Irrtum vor“, erklärt Adrien, dessen Augen nach zwei Tagen in der Polizeihaft von dunklen Schatten umrandet sind. Der 24-Jährige ist Schmuckverkäufer. „Mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag im Luxusgeschäft“, fügt er stolz hinzu. Am Dienstagabend hat er nach der Arbeit an der ersten Demonstration seines Lebens teilgenommen. Eine Freundin rief ihn an und schlug ihm vor, zur Place de la République zu kommen. „Aha“, unterbricht ihn die Richterin trocken, „und warum hatten Sie eine Skimaske dabei?“ – „Weil meine Freundin mir gesagt hat, dass die Polizei Tränengas einsetzt und dass alle rundum – auch die Journalisten – Masken trügen, um sich zu schützen.“ An der Place de la République gerät Adrien mit 300 anderen jungen Leuten in den Polizeikessel, in dem er festgenommen wird. Die „Bierbüchsen auf die Polizei“, wegen deren er vor Gericht steht, bestreitet er. „Wenn Sie so etwas vermeiden wollen, gibt es Orte, wo Sie besser nicht hingehen“, rät ihm die Richterin.
Wilfried hat trotz seiner Größe und seiner 18 Jahre noch weiche, kindliche Gesichtszüge. „Madame“, versucht der Gymnasiast aus einer weit entfernten Vorstadt die Richterin zu unterbrechen. Die liest aus einem Protokoll vor, dass er die Polizei mit obszönen Zeichen beleidigt habe, wobei er einen schwarzen Mantel trug. „Aber Madame“, insistiert der große schwarze Junge noch mal, „ich hatte doch eine kurze Weste an.“ Am Ende der Demonstration sei er mit Mitschülern „zu einem Griechen“ gegangen. Als die Jungen wieder herauskommen, ist der Métro-Eingang von der Polizei versperrt. Wilfried erzählt vor Gericht: „Wir wollten nach Hause. Und ich bin auf einen Polizisten zugegangen, um ihn nach der nächsten offenen Métro-Station zu fragen.“ Dabei wird Wilfried festgenommen. „Haha“, spottet die Richterin, „Sie haben die Polizei also nach demWeg gefragt.“
Der 20-jährige Ferdinand studiert Geschichte an der Pariser Universität Tolbiac. Seit eineinhalb Monaten ist er in Bewegung. Er hat an Blockaden, Streiks und Demonstrationen teilgenommen. „Bitte glauben Sie nicht“, sagt er zu der Richterin, „dass ich das alles getan hätte, um zu randalieren.“ Am Dienstagabend sieht Ferdinand an der Place de la République rot. In seiner unmittelbaren Nähe wird ein ihm unbekannter junger Mann „brutal“ festgenommen. Ferdinand mischt sich ein. Versucht, die Festnahme zu verhindern. Schlägt. „Woher dieser Haß? Wie kommen Sie dazu, gegenüber der Polizei misstrauisch zu sein?“, fragt ihn der Staatsanwalt. „Was ich getan habe, war idiotisch“, antwortet Ferdinand leise. Er bereut, was er am Dienstagabend getan hat.
Die einzigen belastenden Elemente sind die Protokolle der Polizei. Zweifel an diesen lassen weder Richterin noch Staatsanwalt zu. Ein paar Jungen geben zu, dass sie „kleine Steine“ oder „einen Stock“ geworfen haben. Andere, dass sie ein Messer in der Tasche hatten. Doch die meisten Angeklagten leugnen alles. Die wenig konkreten und manchmal widersprüchlichen Polizeiangaben kommen hinzu. Dennoch ist die Unschuldsvermutung an diesem Tag eine ferne Hypothese. Die 23. Kammer macht Fließbandarbeit. Kein Verteidiger kann die Überzeugung des Gerichtes wirklich erschüttern. In diesen Schnellverfahren sind es Pflichtverteidiger. Sie haben ihre Mandanten erst am Vormittag desselben Tages kennen gelernt. In Gesprächen, die selten länger als 15 Minuten dauerten. „Sehen Sie doch selbst“, fleht eine Verteidigerin das Gericht an, „dies ist ein reizender, kommunikativer Junge. Sozial gut integriert. Mit einer funktionierenden Familie. Kein Schläger. Zerstören Sie nicht seinen Start ins Leben. Hier liegt ein Fehler im Casting vor.“
Am frühen Abend treten zwei Angeklagte mit ganz anderem Auftreten in die Box. Joan und Lionel, beide 18, beide von der französischen Karibikinsel Goudeloupe, sind am Abend der großen Demonstration in der Pariser Métro erwischt worden. Zusammen mit zwei Minderjährigen sind sie von vorn und von hinten in denselben Waggon gestiegen. Haben gemeinsam einen jungen Mann überfallen. Und ihm seinen MP-3-Player weggenommen. Haben ihn ins Gesicht geboxt und ihn getreten. „Das Hemd ist zerrissen, weil der Typ sich bewegt hat“, begründet Lionel mit herausforderndem Grinsen aus der Box heraus, „ich hatte meine Hand in seiner Tasche.“ Lionel, Gepäckträger am Flughafen, gesteht die Tat. Joan, in dessen Rucksack die Polzei drei MP-3-Geräte gefunden hat, will nur zufällig „dabei gewesen“ sein. Die beiden Jungen leben erst kurze Zeit in der „Métropole“. Beide haben keine Familie in Paris. Und beide haben Vorstrafen. Ihr Französisch ist begrenzt. Ihre Sätze kurz. Mit herausforderndem Grinsen schauen sie die Richterin an. „Wir kamen von der Demo“, nuschelt Joan. Was die Abkürzung „cpe“ bedeutet, kann er nicht erklären.
Draußen hat die Nacht über Paris begonnen. In der 23. Kammer hat die Vorsitzende Richterin mit ihren beiden Beisitzern die ersten Urteile dieses Abends gefällt. Alle Angeklagten sind schuldig. Die beiden Métro-Schläger Joan und Lionel bekommen 15 Monate Haft. Bei manchen anderen Angeklagten bleibt das Strafmaß unter den zwei vom Staatsanwalt geforderten Monaten Haft. Freigesprochen wird niemand.
Von der Straße dringen Sprechchöre in den holzgetäfelten Saal. Das Gericht liegt auf der Île de la Cité. Ein paar Gehminuten vom Quartier Latin entfernt. Wenige Stunden zuvor hat der Verfassungsrat den „cpe“ angenommen. Draußen protestieren Studenten dagegen. Ihre Sprechchöre werden von dem Geklapper von Pferdehufen unterbrochen. Dann folgen Sirenen. Die Jugendbewegung gegen den „cpe“ tritt in eine neue Phase.