: Arbeitsagentur gibt kein Gummi
Beratungsstellen in NRW schlagen Alarm: Arbeitslose Frauen können sich Verhütungsmittel nicht mehr leisten. Ungewollte Schwangerschaften brechen sie zunehmend ab: „Familienplanung wie in der Sowjetunion“
DÜSSELDORF taz ■ Hartz IV macht schwanger. Weil seit der Arbeitsmarktreform von den Argen – den Arbeitsgemeinschaften aus Arbeitsagenturen und Kommunen, die alle jobfähigen Langzeitarbeitslose betreuen – keine Verhütungsmittel mehr bezahlt werden und die Krankenkassen auch keine Sterilisationen mehr finanzieren, steigen bei betroffenen Frauen die ungewollten Schwangerschaften. Zeitgleich steigt auch die Zahl der Abtreibungen. Das beklagen viele der Stellen in NRW, in denen die Frauen die verpflichtenden Beratungsgespräche vor dem Abbruch durchführen müssen. „Wir hören jetzt zum ersten Mal Sätze wie ‚Ich treibe ab, weil ich mein Kind nicht mehr bezahlen kann‘“, sagt Karin Thöne, Leiterin der Pro Familia Beratungsstelle im Ennepe-Ruhr-Kreis.
Dort wurden im letzten Jahr 15 Prozent mehr Frauen aus sozialen Problemumfeldern beraten. Im Gegensatz zum landesweiten Trend, nach dem weniger Frauen die Schwangerschaft abbrechen, steigt die Zahl der Abtreibungen bei Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen. Für die Sozialberater im Ennepe-Ruhr-Kreis ist deswegen eindeutig: Hartz IV mit seinen niedrigen Regelsätzen geht vor allem auf Kosten von Frauen. „Für Frauen eine besondere Problemlage“, heißt es im Jahresbericht der Pro Familia.
Weil bei Schwangerschaftsabbrüchen die Gründe nicht systematisch erfasst werden, gibt es keine zuverlässigen landesweiten Statistiken, die einen Zusammenhang zwischen Hartz IV und Abtreibungen herstellen können. Dennoch sind sich landesweit die Beraterinnen in ihrer Einschätzung einig. „Wirtschaftliche Fragen spielen in den Beratungen zunehmend eine Rolle“, sagt Petra Söchting, Leiterin einer Awo-Beratungsstelle in Essen. In ihrem Einzugsgebiet könnten sich viele langzeitarbeitslose Paare Verhütungsmittel schlichtweg nicht mehr leisten. „Da kommt alles zusammen“, sagt auch Ulla Pawlak von der Dortmunder Arbeiterwohlfahrt. „Niedrige Regelsätze, Streichung der Unterstützung von Frauen, wenn deren Männer verdienen und der Wegfall der Verhütungsmittelkosten.“ Im Landkreis Euskirchen rechnet der Verein „Frauen helfen Frauen“ sogar damit, dass zwei Drittel aller Abtreibungen aus finanziellen Gründen vorgenommen werden. „Eine Standardaussage ist, dass die Mütter ihren Kindern etwas bieten wollten, es aber nicht könnten“, sagt eine dortige Beraterin.
Die Entwicklung kommt für viele Sozialverbände nicht überraschend. Sie haben schon vor Hartz IV vor diesen Auswirkungen gewarnt. In Sachen Familienplanung ist Hartz IV paradox: Während nun Sterilisation und Verhütungsmittel nicht mehr von den Sozialbehörden bezahlt werden, gibt es für Abtreibungen eine Kostenerstattung. „Das ist wie in der Sowjetunion“, sagt Ulla Pawlak. „Da wird die Abtreibung plötzlich zum Mittel der Familienplanung.“
Das sehen offenbar auch einige Kommunen so. Sie fangen nun an, ihren Betroffenen die Verhütungsmittel wieder zu bezahlen. Die betroffenen Verbände prüfen derzeit Aktionen, damit die Behörden das Verfahren wieder ändern.
SVEN PRANGE