: Mama muss man nicht verstehen
Niedersachsen kürzt an seinen Schulen den Unterricht in Muttersprachen. Von Russisch bis Griechisch fallen viele Stunden weg. Zur Integration sei Deutsch-Lernen allein besser, meint das Kultusministerium in Hannover
Havva Mermertas macht sich Sorgen. Fünf Kinder zieht die Türkin groß. Für alle will sie die bestmögliche Ausbildung – auch auf Türkisch. Aber das Land Niedersachsen macht ihr einen Strich durch die Rechnung: Denn nach einem Regierungserlass wird muttersprachlicher Unterricht für Migrantenkinder seit dem 1. Februar nur noch verkürzt angeboten. Viele Schulstunden auf Türkisch, Russisch, Griechisch oder in 13 anderen Sprachen sind gestrichen.
Die Schüler nehmen freiwillig an dem muttersprachlichen Unterricht teil. Ziel ist es, dass sie die Sprache ihres Herkunftslandes auch lesen und schreiben können. An den Grundschulen gibt es ihn neuerdings jedoch nur noch höchstens drei Stunden pro Woche. Früher waren es fünf. Auch müssen sich nicht mehr acht, sondern mindestens zehn Schüler finden, damit ein Kurs zustande kommt.
In der Sekundarstufe I ist der Unterricht so gut wie gestrichen: Von der fünften Klasse an werden nur noch gemeinsame Stunden für alle Schüler angeboten – und auch das nur bei „entsprechendem Bedarf“. Deutsche Kinder haben aber meistens keine Lust auf Türkisch oder Albanisch und die Kurse finden nicht statt.
Das Kultusministerium begründet seinen Erlass mit einer „veränderten Zuwanderungssituation“: Das alte Angebot sei aus „dem Blickwinkel der 70er Jahre“ enstanden, so Georg Weßling, Sprecher von Kultusminister Bernd Busemann (CDU). Früher sei die Politik davon ausgegangen, dass ausländische Schüler „temporär“ hier sind und ihre Muttersprache für eine spätere Rückkehr ins Heimatland pflegen müssten. Heute dagegen seien die Kinder und Jugendlichen zumeist hier geboren und hätten ihren Lebensmittelpunkt auf Dauer in Deutschland. Der Schwerpunkt müsse darum auf dem Erlernen der deutschen Sprache liegen.
Türkisch etwa unterrichteten in Niedersachsen bis zuletzt 99 Lehrer an insgesamt rund 130 Schulen. Geld werde durch die Reduzierung nicht gespart, behauptet Weßling. Die betroffenen Lehrer hätten wie alle Kollegen mehrere Fächer und könnten als Landesbedienstete nicht entlassen werden.
Vassilios Vassis vom Griechischen Elternverein in Niedersachsen kritisiert den Erlass als einen „Rückschritt für die Integration“. Der muttersprachliche Unterricht sei unersetzlich, um auch Deutsch zu lernen. Die Auffassung, eine Zweitsprache könne nur lernen, wer seine Muttersprache beherrsche, ist in der Forschung indes umstritten.
„Es gibt keinen Beweis für die These, dass durch Förderung der Herkunftsprache die Leistungen in der Zweitsprache gesteigert werden“, sagt die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Ursula Neumann. Allerdings sei der Zusammenhang in Deutschland auch nie untersucht worden. Belegt sei nur, dass muttersprachlicher Unterricht das Deutschlernen nicht aufhalte.
Die Expertin für interkulturelle Bildung tritt klar dafür ein, in Schulen auch Muttersprachen zu unterrichten. Für den einzelnen Schüler wie für die ganze Gesellschaft bringe dies „nur Zugewinn“, argumentiert sie: Mehrsprachigkeit eröffne bessere Bildungschancen. Zugleich benötige Deutschland im Zeitalter der Internationalisierung mehrsprachige Arbeitskräfte. Außerdem diene der Unterricht der Integration, weil mit ihm eine „ideelle Anerkennung der Sprache“ verbunden sei: Für Zugewanderte „ist das für den Selbstwert sehr wichtig“, so Neumann. Die Schulen selbst profitierten, weil die Lehrer durch ihre Sprachkompetenz Zugang zu Migrantenfamilien hätten und so zum sozialen Frieden beitragen könnten.
Havva Mermertas will nun mit anderen Eltern einen Privatunterricht auf die Beine stellen. Tafel und Kreide hat sie schon besorgt. EVA WEIKERT