See me, hear me, touch me

Klar ist der Krieg der Vater der modernen Medientechnologie, aber in den Schützengräben konnte das Sehen, Hören und Riechen auch zur tödlichen Gefahr werden: Julia Enckes Untersuchung der „Augenblicke der Gefahr“ geht den medialen Überformungen unserer natürlichen fünf Sinne nach

Die Augenblicke der Gefahr stellen die Sinneserfahrung als die Bedrohung dar, zu der die Technik dann das Heilsversprechen liefert

VON CONRAD BECKMANN

Spätestens seit Kittler und Virilio ist bekannt, dass man Kriege als die großen Katalysatoren innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Technologie betrachten muss. Doch erst um 1900 war die Kriegstechnik so weit fortgeschritten, um die logistische Basis der menschlichen Wahrnehmung von Grund auf verändern zu können. Die noch junge Technologie der Fotografie zum Beispiel erlebte während des Ersten Weltkrieges ihren ersten großen Boom.

Doch die Kriegsfotografie lieferte keine Bilder des Krieges. Um zu sehen, musste man sich sehen lassen – fotografieren konnte man nur in dem Augenblick, in dem man nicht schoss. „Zu allem Unglück“, schrieb Ernst Jünger 1920 in seinem Tagebuch „In Stahlgewittern“, „kam heute auch noch der Leutnant von Ewald in unseren Abschnitt, um die nur 50 Meter vom Graben entfernt liegende Sappe N zu photographieren. Als er sich umdrehte, um wieder vom Postenstand herunterzusteigen, zerschmetterte ihm ein Geschoss den Hinterkopf. Er starb augenblicklich.“

Also zeigen die Bilder des Ersten Weltkrieges keine Gefechtsszenen, sondern entweder öde Landschaften, verlassene Schützengraben oder Bilder der Gefechtspausen. Es sind Erinnerungsfotos vom Frontalltag, von denen viele bedrückend an Urlaubsfotos erinnern: der Kamerad neben dem Flugzeugwrack oder heroisch neben dem aufgestellten Gewehr.

Ernst Jünger, für den der Erste Weltkrieg nicht nur Weltgericht und Destruktionsakt war, sondern vor allem eine radikale Neuordnung der Dinge und Schöpfungsakt eines „neuen Typus“ darstellte, schrieb mit seinem Erstlingswerk „In Stahlgewittern“ nicht nur ein Tagebuch im Gefechtsstand, sondern auch eine Dokumentation der Amateurfotografie. Die Amateuraufnahmen der Soldaten wurden in den Nachkriegspublikationen neu geordnet und mit Bedeutung aufgeladen. Die leere Kriegslandschaft wurde in eine Ereignislandschaft, die Niederlage in einen „inneren Sieg“ umgedeutet.

Wenn Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen zur tödlichen Gefahr werden, führt das zur Isolation des Subjekts. Während des Ersten Weltkrieges schon war das Auge der Schnelligkeit der Geschosse unterlegen. Zu sehen oder sich sehen zu lassen wurde zu einer tödlichen Gefahr. Einen Laut von sich zu geben, verriet dem Feind den eigenen Standpunkt, und das Hören des Feindes ging der darauf folgenden Explosion der Sprengladung voran. Der eigenartige Geschmack auf der Zunge kann den Einsatz des Kampfgases Phosgen bedeuten und das berüchtigte Senfgas Lost hat in seiner verunreinigten Form einen „meerrettich- oder mostrichartigen“ Geruch, war aber in seiner Reinform nicht mehr wahrnehmbar und durchdrang Stiefel, Uniformen und die Haut. Es bleibt dem Individuum nichts übrig, als sich zu panzern gegen die Umwelt, sich so abzuschotten, dass nichts durchdringt.

Damit schwinden aber auch seine Sinne. „Es ist das Paradox der Panzerung, dass sich mit ihr das Training der Augen und die Schule der Ohren als nutzlos erweisen muss, die erworbene Wahrnehmungskompetenz nicht zur Anwendung kommen kann.“

Die Kulturwissenschaftlerin Julia Encke, inzwischen als Literaturkritikerin tätig, arbeitet in ihrer gelungenen Dissertation über die Wechselwirkungen zwischen dem Ersten Weltkrieg und den Sinnen. Der erste große Teil des Buches widmet sich der Ausbildung des Auges und der Entwicklung der Fotografie. Hier wiederholt sie mimetisch den von Jünger beschriebenen Stellungskrieg, indem sie eine Flut von Fakten und Forschungsansätzen zusammenträgt. Eine große Leistung, zumal das Buch sehr lesbar geblieben ist und auch dem Nichtspezialisten einen guten Einstieg in das Thema bietet. Den Schock des Ersten Weltkrieges, der bekanntlich viel größer war als der der nachfolgenden Kriege, verdoppelt sie im Thema der Materialschlacht. Trotz dieser Faktenflut ist es ihr gelungen, stets Neugier zu wecken.

Den zweiten Teil des Buches widmet sie der Geschichte des Ohres und der Entwicklung der akustischen Technologien. Der Leser fühlt sich beim Lesen hineinversetzt in das Stollengewirr der Schützengräben, wo es gilt, einerseits jedes Geräusch zu vermeiden, um den Feind nicht auf sich aufmerksam zu machen, und andererseits sich ganz auf den Hörsinn zu konzentrieren, um eventuelle Bedrohungen früh genug zu hören. Gekonnt stellt Julia Encke zeitgenössische Erzählungen wie Kafkas „Der Bau“ und Musils „Fliegerpfeil“ der technischen Entwicklung von Telefonie und akustischen Hörhilfen entgegen, in denen diese kriegsbedingte Konzentration auf den Hörsinn und dessen Bedrohung ihren Widerhall findet.

Mit der Entdeckung des Stethoskops durch den französischen Arzt René Théophile Laennec 1816 beginnt durch die Erweiterung des Ohres eine anders gelagerte Entfernung vom Körper, die mit der kriegsbedingten Entwicklung der akustischen Medien weiter vorangetrieben wird. Die Hörerfahrung des Ersten Weltkrieges ist verantwortlich, so behauptet Encke, für die Innovationen akustischer Medien, also für die Entwicklung von Telefonie, Radio und des Tonfilms in der Nachkriegszeit.

Obwohl man sich gewünscht hätte, dass der zweite und dritte Teil zum Geruchssinn ausführlicher ausgefallen wären, wird mit dem Buch von Julia Encke ein Forschungsfeld eröffnet, das neue Perspektiven eröffnet und sowohl den geschichts- als auch kulturwissenschaftlichen Blick auf den Ersten Weltkrieg und die Sinnenphysiologie in ein neues Licht stellt. Die Augenblicke der Gefahr stellen das Paradigma der unvermittelten Sinnenerfahrung als Bedrohung auf, zu dem die technologische Entwicklung das Heilversprechen liefert. Ihre Thesen gewinnen eine erschreckende Aktualität in Hinsicht auf gegenwärtige Kriege, in denen die Abkopplung der Sinne zur technologischen Perfektion getrieben wird.

Julia Encke: „Augenblicke der Gefahr“. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2006, 285 Seiten, 36,90 €