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Archiv-Artikel

„Da wird Heimatpflege betrieben“

BUCH Worüber predigen Imame in Deutschland? Am liebsten über Atatürk und die Dardanellen. Aber es gibt auch Ausnahmen

Der Autor und sein Buch

■ Die Person: Rauf Ceylan, 33, ist als Sohn kurdischer Migranten in Duisburg geboren und seit 2009 Professor für Religionswissenschaft an der Universität in Osnabrück. Zudem bildet er für die Konrad-Adenauer Stiftung in der Türkei Imame vor ihrer Einreise nach Deutschland weiter.

■ Die Studie: Für seine Untersuchung hat Ceylan 250 Vorgespräche und 44 Tiefeninterviews mit Imamen geführt. Es ist eine qualitative Studie, sie ist also nicht repräsentativ.

■ Das Buch: Rauf Ceylan: „Die Prediger des Islam. Imame – Wer sie sind und was sie wirklich wollen“. Verlag Herder, Freiburg, 192 Seiten, 12,95 Euro

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Herr Ceylan, für Ihr Buch „Die Prediger des Islam“ haben Sie Gespräche mit Imamen geführt und viele Freitagspredigten angehört. Worüber wird da eigentlich gepredigt?

Rauf Ceylan: Das ist ein Problem. Meist gehen die Themen vollkommen an der Lebensrealität der Menschen vorbei. Dabei ist die Freitagspredigt seit mehr als 1.000 Jahren ein wichtiges Medium, das religiös und ethisch unterweisen, aber auch soziale Probleme aufnehmen soll. In Deutschland würde das heißen, dass der Imam in Berlin-Kreuzberg oder Duisburg-Marxloh zum Beipiel Bildungsprobleme besprechen sollte oder auch die Diskussion über Zwangsheirat. Doch es geht um den Dardanellenkrieg, Atatürks Leben oder Zakat, die Sozialabgabe. Da wird Heimatpflege betrieben – und die Zuhörer können damit häufig nichts anfangen. Ich habe mir Hunderte von Predigten angehört und es gab nur einige positive Beispiele.

Welche?

In einem Fall hat der Imam nach dem Mord an der Ägypterin Marwa El Sherbini im Dresdener Landgericht im vergangenen Jahr zur Besonnenheit aufgerufen; im anderen Fall wollten kurdische Jugendliche nach dem Einmarsch der Türkei im Nordirak unangemeldet dagegen protestieren. Auch da hat der Imam Besonnenheit angemahnt. Die Moscheen sind freitags voll, denn da kommen nicht nur die sehr Religiösen. Man kann mit den Freitagspredigten in Deutschland schätzungsweise eine halbe Million Muslime erreichen und könnte viele aktuelle Probleme besprechen. Aber diese werden nicht aufgegriffen, oder nur, wenn sie von außen an den Imam herangetragen werden. Nach dem 11. September wurden in den Moscheen die Anschläge verurteilt. Das Thema ist sehr heikel. Die Imame verstehen aber oft nicht, welche Bedeutung es für die Muslime in Deutschland und auch für die eigene Gemeinde hat. Auch in die öffentliche Diskussion mischen sich die Imame aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht ein. Das machen Verbandsfunktionäre und Schriftsteller, die keine Theologen sind. Wir brauchen daher Imame, die Vorbilder sind.

Warum ist das so wichtig?

Imame übernehmen seit den 70er-Jahren die religiöse Erziehung der muslimischen Kinder und Jugendlichen in Deutschland und prägen ihre religiöse Orientierung. Sie sind Vertrauenspersonen, beraten bei Eheproblemen, Schulden oder Erziehungsfragen. Sie könnten Schlüsselpersonen bei der Integration sein, aber sie können ihre Brückenfunktion nicht ausschöpfen.

Warum nicht?

Viele Imame sind im Rotationsverfahren hier, sie kommen also für drei oder vier Jahre und kehren dann in die Türkei zurück. Sie orientieren sich überwiegend am Herkunftsland. Gesellschaftliche und politische Diskussionen in Deutschland bekommen sie nicht mit. Das führt auch in den Gemeinden zu Unzufriedenheit und Konflikten, besonders mit der jungen Generation.

Wie sehen diese Konflikte aus?

Die sind vielfältig und betreffen auch die Dachverbände. Überall gibt es – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – Hardliner, die sich nicht öffnen wollen, und jene, die es wollen. Dann gibt es Konflikte zwischen dem Dachverband und den häufig viel pragmatischeren Moscheen. Und dann die Generationskonflikte in den Moscheen: Es gibt junge, gebildete, aufgeschlossene Muslime, die für einen progressiven Islam stehen und Veränderungen wollen. Sie könnten den Öffnungsprozess vorantreiben.

Tun sie es auch?

Manchmal schon, aber dazu brauchen sie einen langen Atem, den nicht alle haben. Die erste Generation ist noch da, sie ist herkunftsorientiert und hat oft formelle oder informelle Machtpositionen in den Gemeinden. Die jungen Leute, viele von ihnen Frauen, sind ungeduldig, ihnen gehen die Reformen zu langsam. Andere spalten sich ab und gründen eigene Strukturen. Das ist ein Braindrain, den ich vor allem im Ruhrgebiet und Rheinland beobachtet habe. Mit diesen Muslimen kann man auf Augenhöhe diskutieren, aber sie verlieren häufig den Kontakt zur muslimischen Basis – und auch zu den großen Verbänden.

In Ihrem Buch bekundet ein extremistischer Imam Sympathie für Bin Laden und den Kampf gegen den „Terror des Westens“. Wie häufig gibt es solche Hassprediger?

Insgesamt gibt es etwa 2.000 Imame in Deutschland, die Extremisten kann man vielleicht an zwei Händen abzählen. Im organisierten Islam der großen Verbände wird man sie kaum finden. Der Zugang zu dieser Gruppe gestaltet sich sehr schwer.

Was macht diese extremistischen Imame aus?

Sie sind in der Regel jung, eloquent und deutschsprachig, haben kein Theologiestudium, sondern sind Autodidakten. Sie vereinfachen den Islam extrem und politisieren ihn – was ihn vor allem für Jugendliche attraktiv macht. Sie gießen die Religion in eine populäre Form. Sie halten Vorträge über Bildung oder Jugendkriminalität und stellen so Kontakt zu den Jugendlichen her. Diesen Imamen müssen wir progressive entgegensetzen, die auch attraktiv sind.

Nach Ihren Interviews haben Sie die Imame in vier Gruppen aufgeteilt, die Extremisten bilden eine sehr kleine. Drei Viertel der Imame ordnen Sie in die Kategorie „traditionell konservativ“ ein. Was macht diesen Typus aus?

Er ist vergleichbar mit erzkonservativen katholischen Priestern. Er ist gegen schnelle Erneuerungen, will religiös-geistige Kontinuität, steht auf Obrigkeitshörigkeit, Gehorsam und traditionelle Geschlechterrollen. Er ist konservativ, aber nicht anfällig für Fundamentalismus.

Und die beiden anderen Typen?

Dann gibt es die intellektuell-offensiven Imame, die über 15 Prozent ausmachen. Sie sind wirklich progressiv und haben einen rationalen Zugang zum Islam. Schließlich bleibt eine kleine Gruppe, die ich traditionell-defensiv genannt habe. Sie haben ein apokalyptisches Weltbild, glauben an eine Geheimlehre und an Okkultismus.

Kann man die vier von Ihnen beschriebenen Imam-Typen Organisationen wie der Türkisch-Islamischen Union Ditib zuordnen, die eng mit dem türkischen Staat verbandelt ist, oder Milli Görüs, die der Verfassungsschutz als fundamentalistisch einstuft?

Nein, das geht eben nicht. Natürlich hat Milli Görüs als Verband eine Linie, aber die Moscheevereine vor Ort müssen auf einem sehr begrenzten Arbeitsmarkt Imame finden. Sie nehmen dann häufig sogar pensionierte Ditib-Imame. Das war bis vor kurzem in der Türkei schon mit 45 Jahren möglich. Man muss dabei berücksichtigen, dass Imame häufig sehr schlecht bezahlt werden, manche von ihnen bekommen nur 600 bis 700 Euro im Monat. Nur Ditib-Imame verdienen gut, weil sie Angestellte des türkischen Staates sind. Sie bekommen für ihren Auslandsdienst zusätzlich etwa 1.500 Euro netto monatlich.

Ditib ist mit über 800 Moscheegemeinden der größte Verband in Deutschland. Die Imame werden vom türkischen Staat entsandt und nach vier Jahren ausgetauscht. Welche Folgen hat das?

„Es bleibt eine Gruppe, die ein apokalyptisches Weltbild hat, an Geheimlehren und an Okkultismus glaubt“

Das ist eine der Ursachen des ganzen Problems. Kaum haben sich diese Imame eingelebt und können Deutsch, müssen sie das Land wieder verlassen. Dieser Prozess findet seit den 80er-Jahren statt.

Der Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ), dem Kritiker eine sektenmäßige Struktur nachsagen, bildet in Deutschland aus. Ist das besser?

Es ist positiv, dass hier ausgebildet wird, aber es ist keine akademische Ausbildung. Da wird lediglich vermittelt, wie man predigt und betet, und nicht, wie man über Inhalte wissenschaftlich reflektiert. Inzwischen sind der VIKZ und auch andere Verbände in puncto akademische Imamausbildung einsichtiger. Es besteht eine enge Kooperation mit der Universität Osnabrück. Nur Ditib hat noch Bedenken, wobei neben inhaltlichen Fragen sicherlich die Machtfrage eine Rolle spielt.

Sie sagen, wir brauchen eine neue Rolle für die Imame in Deutschland. Wie sollte die aussehen?

Früher waren die Moscheen rein sakrale Orte, jetzt sind sie Multifunktionszentren. Die Imame müssen in diesen Prozess involviert werden.

Und wie?

Wir müssen damit beginnen, Lehrstühle für islamische Theologie einzurichten, und zwar zügig. Der Wissenschaftsrat, das Beratungsgremium für den Bund und die Länder, hat empfohlen, dies an zwei bis drei Standorten zu tun. Die Lehrstühle sollen Imame, Religionslehrer und wissenschaftlichen Nachwuchs ausbilden, damit sich überhaupt eine wissenschaftliche Diskussion entwickeln kann.

Wann wird es solche Lehrstühle geben?

Die Universität Osnabrück wird noch in diesem Jahr mit einem universitären Weiterbildungsprogramm beginnen. Ab 2012 mit der theologischen Ausbildung. Dafür werden fünf weitere Lehrstühle entstehen.