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Archiv-Artikel

„Das ist Medienterror“

Die Zustände an der Rütli-Schule in Neukölln sind nicht so schlimm wie von der Presse dargestellt, sagt die ehemalige Schulleiterin Brigitte Pick. Das Problem seien eher die vielen frustrierten Lehrer

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE

taz: Frau Pick, in der Boulevardpresse heißt die Rütli-Schule nur noch „die Gewalt-Schule“. Ist das die Schule, die Sie kennen?

Brigitte Pick: Nein und abermals nein. Vieles in den Medien ist massiv übertrieben. Auch der Polizeischutz, den Schulsenator Klaus Böger veranlasst hat, war völlig unsinnig. Wenn Pressevertreter Kinder mit Geld zum Steinewerfen animieren, wundert mich nichts mehr. Mir ist sogar zu Ohren gekommen, dass Reporter Steine mitgebracht haben sollen. Das ist keine Terrorschule. Das ist Medienterror.

Ausgelöst worden ist die Lawine durch einen Brief des Lehrerkollegiums der Schule an die zuständige Schulrätin in Neukölln. Sie kennen das Schreiben?

Das liest sich in der Tat wie ein Offenbarungseid. Ich bin über die Beweggründe des Kollegiums nicht im Einzelnen informiert. Aber ich kann dazu nur sagen: Wenn ein Lehrer einmal mit einem Handy um Hilfe ruft, kann man nicht so tun, als passiere das ständig. Und das Phänomen Vandalismus beobachten wir seit Jahrzenten. Um dem zu begegnen, muss man die Verursacher finden. Das ist sehr aufwändig. Aber es muss sein, sonst ist das ein Fass ohne Boden. Auch die Schülerverwaltung muss bei ihrer Verantwortung gepackt werden. Die Schüler haben die Hausordnung schließlich mitentwickelt. Wer die Regeln nicht durchsetzt, hat verloren.

Solange Sie Schulleiterin waren ist das gelungen?

Ich denke ja. Ohne dass ich die Probleme, die ich oft in den Medien beschrieben habe, in irgendeiner Weise klein reden möchte.

Welche Probleme meinen Sie?

Den so genannten Bildungsunwillen der Kinder. Das hängt für mich damit zusammen, dass die Schule keine attraktiven Lernangebote macht. Meine Devise war immer: Das Leben muss rein in die Schule. Der Unterricht muss praxisnah sein. Es ist dem Kollegium bisher aber leider nicht gelungen, das umzusetzen, obwohl wir auch in der pädagogischen Schulentwicklung mitgearbeitet haben.

Spielen Sie das Gewaltproblem nicht herunter?

Das Gewaltproblem ist unheimlich subjektiv. Solche Probleme hat es schon immer gegeben. Damit will ich nicht entschuldigen, wie sich diese jungen Menschen benehmen. Aber das ist keine Frage der ethnischen Herkunft, sondern des sozialen Status. Ich bin der festen Überzeugung, dass auf dem Thema zurzeit deshalb so rumgehackt wird, weil es sich hier um eine ausländische Minderheit handelt. Wenn man die Klassenfrage zu einer Rassenfrage macht, wird man sich noch wundern, was in Stadteilen wie Neukölln abgeht.

Was müsste passieren?

Diese Frage wird mir im Moment oft gestellt. Wenn ich die Antwort wüsste, würde ich in die Politik gehen. Einmal habe ich es ja schon probiert und bin Parteimitglied geworden. Als ich mitbekommen habe, dass es nur um Pöstchenschacherei geht, bin ich schnell wieder ausgetreten.

Von welcher Partei sprechen Sie?

Von der SPD. Aber das ist bei den anderen nicht anders. Übrigens: Friedbert Pflüger, der CDU-Spitzenkandidat, ist der einzige Politiker, der mich angerufen hat. Bei dem Telefongespräch ist er dann aber ziemlich schnell verstummt, weil er meine politische Überzeugung natürlich nicht teilt: Dass sich dieses Schulsystem, das noch aus der Kaiserzeit stammt, überlebt hat.

Wie sind Sie als Schulleiterin pädagogisch mit den Problemen umgegangen?

Das muss man sich erarbeiten. Meine Haltung ist immer gewesen, auf Augenhöhe mit den Kindern zu agieren. Man kann nicht von jedem Lehrer verlangen, dass er mit so einem Temperament arbeitet, wie ich es mitbringe. Aber ein Lehrer muss eindeutig Position beziehen, auch wenn man sich damit unbeliebt macht. Das habe ich mein Lebtag lang getan – auch beim Thema Ehrenmorde.

Sie sind eine waschechte Berlinerin?

Ich bin in Zehlendorf groß geworden und gehöre zu der Generation der 68er-Lehrer. Die Arbeit hat mich auch politisch interessiert. Der feine Unterschied zu vielen meiner Kollegen ist: Ich bin nicht zwangsweise in der Rütli-Schule gelandet, sondern freiwillig. Und ich finde, die Schule hat im Laufe der Jahre viel Positives auf die Beine gestellt.

Zum Beispiel?

Die Schule hat Lehrer, die Jugendliche beim Übergang in das Berufsleben unterstützen. Das Problem im vergangenen Schuljahr war nur: Von rund 60 Abgängern hat kein einziger einen Ausbildungsplatz bekommen. Die Rütli-Schule gehörte zu den Ersten, die Streitschlichter ausbildete. Wir haben die Sprachschulung intensiviert. Wir arbeiten mit dem Quartiersmanagement zusammen. Ich habe immer wieder türkische und arabische Honorarkräfte in die Schule geholt. Es war nicht so, dass die alle aufgegeben haben, weil die Verhältnisse so schlimm waren. Der Grund war die schlechte Bezahlung. Ich hatte Bewerbungen von Lehrerinnen, die sich speziell für die Arbeit in sozialen Brennpunkten interessiert haben. Ich konnte sie aber nicht einstellen, weil wir die Lehrkräfte aus dem Ostteil der Stadt übernehmen müssen. Die Schulen werden dort ja massenweise zugemacht. Man kann nicht sagen, dass all diese Lehrer gerne zur Rütli-Schule gekommen sind.

Rund die Hälfte des Kollegiums kommt aus dem Ostteil der Stadt. Viele versuchen seit Jahren, an andere Schule versetzt zu werden. Vergebens. Die Folge sind immens hohe Krankenstände.

Nichts ist schlimmer, als mit Menschen zu arbeiten, die das ungern tun. Deshalb habe ich die Versetzungswünsche auch immer befürwortet.

Bei der Schulrätin sind Sie damit aber gegen eine Wand gelaufen?

Ja.

War das mit der Grund dafür, dass Sie im Sommer 2005 aus Krankheitsgründen aus dem Dienst geschieden sind?

Sagen wir mal so: Das Verhalten der Schulrätin hat meine Psyche nicht gerade gestärkt.

Haben Sie in Wirklichkeit nicht auch vor den Verhältnissen kapituliert?

Was die Kinder und Eltern angeht, habe ich nicht kapituliert. Aber der Treibstoff des Optimismus ist mir irgendwann ausgegangen.

Was bedeutet der Medienrummel für die Zukunft der Rütli-Schule?

Ich fürchte, dass der Schule ihr ruinierter Ruf über Jahre anhängen wird. Was so ein Brief in der Öffentlichkeit anrichten wird, hätten dem Lehrer-Kollegium bewusst sein müssen. Ich werde in diesen Tagen ständig auf die Schule angesprochen. Es schlägt mir ein Ausländerhass entgegen, da wird mir schlecht. Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, hat ja schon vorgeschlagen, die Jugendlichen einzusperren.

Sein Parteifreund Pflüger bevorzugt die Abschiebung.

Ja. Es gibt einige Rütli-Schüler, die hinter Gittern gelandet sind – aber auch das seit Jahrzehnten. Armut macht nun mal eher kriminell. Ich erinnere mich noch an ein deutsches Mädchen, das hat Taxis überfallen. Heute ist sie Sozialarbeiterin.

Was wünschen Sie dem neuen Schulleiter?

Dass er das Charisma hat, die frustrierten Kollegen noch einmal mitzureißen.